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Auf ein Neues

„Laut Konferenzbeschluss nicht versetzt.“ Für Schüler, die diesen Satz auf ihrem Zeugnis lesen müssen, bricht zunächst eine Welt zusammen. Es gibt wenige Momente im Leben, in denen das Scheitern so offensichtlich zu Tage tritt wie beim Sitzenbleiben. Rot-Grün will das Sitzenbleiben in Niedersachsen nun abschaffen. Doch selbst unter Schülern trifft diese Entscheidung nicht nur auf Zustimmung.

Die sogenannte Ehrenrunde ist viel zu teuer und bringt nichts, so das fast einhellige Credo von Bildungsforschern. Die neue niedersächsische Kultusministerin Frauke Heiligenstadt relativierte zwar, dass man das Sitzenbleiben nicht sofort und nicht für alle Schulformen abschaffen wolle, dennoch zeigt der Koalitionsvertrag eine klare Marschrichtung: “Sitzenbleiben und Abschulung durch individuelle Förderung überflüssig (zu) machen.”

Der Deutsche Lehrerverband hingegen kritisierte ein „total idealisiertes Bild von Schülern“ und warnt vor einem „Vollkasko-Abitur“. „Man tut so, als sei immer nur das System schuld, wenn jemand nicht vorankommt”, so Josef Kraus, Präsident des Deutschen Lehrerverbandes.

Sitzenbleiben ist kein Einzelschicksal. In ganz Deutschland wiederholen pro Jahr ca. zwei Prozent aller Schüler eine Klasse. Das sind über 150.000 Sitzenbleiber jedes Jahr.

Eine Studie der Bertelsmann-Stiftung ist kürzlich zu dem Ergebnis gekommen, dass das Sitzenbleiben teuer und unwirksam sei. „Klassenwiederholungen führen weder bei den sitzengebliebenen Schülerinnen und Schülern zu einer Verbesserung ihrer kognitiven Entwicklung, noch profitieren die im ursprünglichen Klassenverband verbliebenen Schülerinnen und Schüler von diesem Instrument“, so das Fazit der Studie. Stattdessen sei es viel sinnvoller, Schüler individuell zu fördern. Dies sei wegen Schülern mit Migrationshintergrund, steigende Gymnasialquoten und Zusammenlegungen von Schulformen ohnehin notwendig.

Leider erläutert die Bertelsmann Studie nicht, wie eine individuelle Förderung bei den üblichen Klassenstärken von ca. 30 Schülern pro Klasse gelingen soll.
Außerdem bleibt die Frage offen, wie man auf nicht erreichtes Wissen und fehlende Kompetenzen die Lerninhalte eines neuen Schuljahres aufbauen soll. Weitere Misserfolge scheinen so vorprogrammiert zu sein. Das Wiederholen einer Klasse darf weder als Strafe noch als Makel betrachtet werden. Aber wenn ein Schüler trotz individueller Förderung mit den Lerninhalten überfordert ist, sollte man dann nicht das Sitzenbleiben als Chance betrachten um Lücken zu schließen und Inhalte zu wiederholen und zu festigen?

Eine der grundlegenden Aufgaben von Schule ist es, die Schülerinnen und Schüler auf das Leben vorzubereiten. Welches Bild vom realen Leben vermittelt eine Schule, in der das Sitzenbleiben nicht mehr existiert? Wo die Bedeutung von Leistung und Anstrengung abgeschwächt wird, wird das Leben schnell zum Ponyhof. Wer Kinder mit einer Erfolgsgarantie ausstattet und ihnen vorgaukelt, dass Erfolg unabhängig vom eigenen Leistungsvermögen und Leistungswillen sei, handelt unverantwortlich. Ohne Zweifel ist, dass Schule auch Werte wie Toleranz und Solidarität vermitteln muss, dennoch kann man nicht vor der Leistungsgesellschaft in einer globalisierten Welt die Augen verschließen.

Fast jeder vierte Schüler macht während seine Schullaufbahn eine “Ehrenrunde”. (Quelle: Bertelsmann-Studie)

Kinder machen in der Schule bereits sehr früh die Erfahrung, dass ihre erbrachten Leistungen auch Konsequenzen nach sich ziehen. Im Idealfall sind dies natürlich positive Erfahrungen, wenn z.B. ein Kind mit einem strahlenden Gesicht seinen Eltern die Eins unter dem Aufsatz präsentiert. Kinder müssen aber auch lernen, wie sie mit negativen Erfahrungen umzugehen haben. Eine solche Erfahrung kann auch sein, dass die erbrachten Leistungen im Schuljahr nicht ausreichend sind, um in die nächsthöhere Klassenstufe versetzt zu werden. Wer diese Erfahrung erst in der Ausbildung, im Studium oder später im Beruf machen muss, wurde von der Schule nicht ausreichend auf die Wirklichkeit des Lebens vorbereitet.

Ein Computerspiel landet ziemlich schnell in der Ecke, wenn die Anforderungen so gering sind, dass man ohne große Anstrengungen in das nächste Level gelangt. Herausforderungen und die Möglichkeit des Scheiterns steigern dagegen die Motivation. Dies ist nicht nur bei Computerspielen sondern auch in der Schule der Fall.

Dass selbst unter Schülern die Abschaffung des Sitzenbleibens umstritten ist, zeigt eine Umfrage unter unseren Facebookusern. Über 90% aller Umfrageteilnehmer gaben an, dass das Sitzenbleiben durchaus eine pädagogisch sinnvolle Maßnahme sei. Zu einem fast identischen Ergebnis kommt eine Forsa Umfrage, die im Auftrag des Deutschen Philologenverbandes durchgeführt wurde. Laut Umfrage sind 85% aller Schüler gegen die Abschaffung des Sitzenbleibens. Die Befragten befürchten unter anderem, dass die Leistungsbereitschaft absinken und die Durchfallquote bei Abschlussprüfungen steigen würde, schaffe man das Sitzenbleiben ab.

Und wer doch mal sitzen bleibt, der kann sich wenigstens damit trösten, in prominenter Gesellschaft zu sein. Schriftstellergrößen wie Hermann Hesse und Thomas Mann haben genauso Ehrenrunden gedreht wie Moderator Harald Schmidt und Kanzlerkandidat Peer Steinbrück. Letzterer bekannte sich öffentlich zum eigenen Sitzenbleiben und bestätigte, dass das Wiederholen einer Klasse nicht das Ende einer Karriere sei.

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