Ich bin ein 89er. Das ist meine Zeit.
Burghard Gieseler pendelt in diesem Halbjahr vom AMG in Friesoythe zu uns an die Schule, um Frau Busse während ihrer Babypause im Lateinunterricht zu vertreten. Im Unterricht sprachen wir über den 9. November 1989, den Fall der Berliner Mauer und Herr Gieseler ermöglichte der Klasse mit fesselnden Erzählungen über persönliche Erlebnisse eine kleine Zeitreise in diese Tage.
Sommer 1989. Der 29-jährige Burghard Gieseler entschließt sich dazu, eine Fahrradtour von Passau die Donau entlang nach Ungarn zu unternehmen. Dort trifft er auf zahlreiche Familien aus der DDR, die nach Westdeutschland fliehen wollen. Die Fluchtbewegung der Menschen ist nicht mehr zu übersehen. Er ist quasi mittendrin. Eine Familie, die in einer der Nächte durch den Wald nach Österreich fliehen will, bittet ihn die Verhältnisse an der Grenze auszukundschaften. Herr Gieseler zögert nicht lange, setzt sich wieder auf sein Fahrrad und fährt in Richtung Grenze.
Plötzlich stürmen Soldaten aus einem Kornfeld. Sie laufen mit vorgehaltenen Gewehren auf den jungen Referendar zu und reißen ihn vom Fahrrad. Es wird nach seinem Reisepass verlangt. „Kohl oder Honecker?“
Ruhigen Gewissens holt Herr Gieseler seinen grünen westdeutschen Reisepass aus seinem Rucksack, zeigt ihn vor und sagt: „Kohl.“ Die Soldaten wenden sich ab. Er darf weiterfahren.
Im Nachhinein betrachtet kündigt sich die kommende Revolution oder zumindest der Ausbruch aus der „östlichen Gefangenschaft“ hier und an vielen anderen Stellen bereits an. Aber im Grunde rechnet zu diesem Zeitpunkt noch niemand damit, dass die DDR – und überhaupt das ganze System im Ostblock – zusammenbrechen werden. Als Honecker im Januar sagte, die Mauer werde in 50 und auch in 100 Jahren noch bestehen, hat ihm keiner widersprochen. Irgendwie haben die Menschen sich weitgehend mit der Teilung Deutschlands abgefunden. Nur sehr wenige akzeptieren nicht, dass Menschen in Deutschland erschossen werden, nur weil sie ihr Menschenrecht auf Bewegungsfreiheit wahrnehmen. Burghard Gieseler ist einer von ihnen. Immerhin zeigt sich bald, dass die meisten anderen Deutschen schließlich doch beginnen, sich der Auffassung dieser Minderheit anzuschließen.
Der Drang danach, zu reisen, andere Menschen kennenzulernen, die Lieben aus dem anderen Teil Deutschlands endlich wiederzusehen, sich nicht länger dem DDR-Regime beugen zu müssen und nach Westdeutschland ziehen zu können, wird immer größer. Die Zahl der Flüchtlinge wächst.
Am Abend des 09. Novembers sitzt Herr Gieseler mit seinem Abendessen vor dem heimischen Fernseher. Es laufen die Heute-Nachrichten im Zweiten. Obwohl der Teller noch nicht leer ist, schiebt der Mann ihn achtlos beiseite. Die letzte Meldung hat ihn aufhorchen lassen: Der SED-Sprecher Günther Schabowski soll auf einer Pressekonferenz auf Nachfrage eines italienischen Journalisten die neue Reiseregelung verkündet haben, die vorsieht, dass die Bürger der DDR an den Grenzübergangspunkten ausreisen könnten. Doch was Burghard Gieseler und die Mehrheit der Deutschen zu diesem Zeitpunkt nicht wissen, ist, dass die Reisefreiheit bisher eigentlich nur in einem Erlassentwurf geregelt und von der Regierung noch nicht vollständig abgesegnet worden ist. Wenn, dann sollte die neue Regelung nämlich erst am frühen Morgen des kommenden Tages, dem 10. November verkündet werden und gelten, wenn alle Bürger in ihren Betten lägen und schliefen, um dadurch einen Massenansturm zu verhindern. Doch nun hat Schabowski sich verplappert und die Frage nach dem Zeitpunkt des In-Kraft-Tretens der neuen Regelung wird in den Raum geworfen. Auf weiteres Drängen der Medienleute lässt der SED-Sprecher sich zu einer folgenschweren Antwort hinreißen: „Die neue Reiseregelung gilt nach meiner Kenntnis… ab sofort, unverzüglich.“ Und das, obwohl zum besagten Zeitpunkt nicht einmal die Grenzer über diese Wendung informiert sind.
Schabowskis Presseerklärung als Video
Da dieser Rapport zunächst eher belanglos an die Tagesmeldungen der Heute-Nachrichten angehängt wurde, ist die Neuigkeit anfangs nicht gerade als weltbewegend zu erkennen, doch dieser Umstand soll sich schon bald ändern. In der Tagesschau ist die Verkündung der Reisefreiheit bereits die erste Meldung.
Selbst die privaten Sender lassen Schabowskis Bekanntgabe kurz darauf als Nachricht des Tages verlauten und nicht nur in Deutschland, sondern in ganz Europa und darüber hinaus sogar in der ganzen Welt unterbrechen Fernseh- und Radiosender ihr laufendes Programm, um direkt von der Berliner Mauer aus übertragen zu können. Die Menschen selbst haben ihr neues Reiserecht schon während der Live-Übertragung der Pressekonferenz wahrgenommen und sich, zu Fuß, mit der Bahn oder mit dem Auto, unverzüglich – wie Schabowski es ihnen verkündet hatte – zu den Grenzübergangsstellen begeben. Menschenströme pilgern aus dem Osten zur Mauer und als endlich die Schlagbäume hochgehen, auch weiter in den Westen. In Berlin und in ganz Deutschland herrscht ein unsäglicher Freudentaumel, ein durch nichts zu verminderndes Glücksgefühl.
In Wolfenbüttel viel zu weit vom Geschehen entfernt und doch gewillt an der Stimmung dieser Nacht teilzuhaben, schaut der junge Herr Gieseler fern bis ihm die Augen zufallen, legt sich daraufhin mit laufendem Radio ins Bett und hört die ganze Nacht durch. Am nächsten Morgen macht er noch ein paar Unterrichtstunden zum Thema Deutsche Einheit, ehe er – wieder aus der Schule zurück – einen Freund in Göttingen anruft, ob der nicht Lust hätte, mit ihm nach Berlin zu fahren.
Wir schreiben Freitag, den 10. November. An der innerdeutschen Grenze in Helmstedt spielen sich vor den Augen der beiden Männer unbeschreibliche Szenen ab: Sie sehen ein riesen Spalier von Menschen. Alle haben sie Geschenke dabei und reichen sie in die passierenden Trabbis, die überquellen von Ostdeutschen mit überglücklichen tränenüberströmten Gesichtern. Vor Freude, als Zeichen der deutschen Verbundenheit, der Brüderlichkeit, wird stetig auf die Autodächer geklopft, es wird gelacht und geweint. Eine unglaubliche Euphorie hat Überhand über alle Menschen genommen. Über diejenigen, die dachten niemals wieder aus dem DDR-Käfig freizukommen und über diejenigen, die die Befreiten in ihrer eigenen Heimat in Empfang nehmen, über die wiedervereinigten Deutschen.
Herr Gieseler hatte sich immer vorgenommen, einmal das Brandenburger Tor zu durchschreiten, so gehen die vom Hochgefühl mitgerissenen Freunde weiter nach Berlin. Es ist Nacht, doch das Tor wird von den Scheinwerfern der unzähligen Medienteams taghell erleuchtet. Die Männer lassen sich von anderen Deutschen auf die Berliner Mauer ziehen, müssen jedoch erkennen, dass bis zum Brandenburger Tor kein Durchkommen zu erwarten ist, weil es von einer Soldatenkette des Wachregiments Felix Dzerzhinsky abgeriegelt wird. Trotzdem will der junge Burghard Gieseler wie auch viele andere Wessis diesernachts östlichen Boden unter die Füße bekommen und begibt sich deshalb auf die andere Seite der Mauer. Doch die Masse der Menschen ist leider [oder vielleicht auch Gottseidank] auf der Mauer geblieben und nicht mit in den Osten „gesprungen“. Denn unser angehender Lateinlehrer befindet sich nun in der Menge, die mit den Grenztruppen ringt, bis diese sich gezwungen sehen, schließlich gewaltsam mit dem Einsatz von Wasserwerfern gegen die Menschenmenge vorzugehen. Die beiden Freunde ziehen sich schließlich zurück und beschließen nach einer Tasse heißen Kaffees zurück nach Wolfenbüttel zu fahren. Die Nacht ist anstrengend, eiskalt und herrlich zugleich.
Auf dem Weg nach Hause erleben sie von Magdeburg bis Helmstedt den schönsten Stau ihres Lebens. Proviant und Autos werden getauscht. So bietet sich zum Beispiel für jeden Westdeutschen die Gelegenheit einmal Trabbi zu fahren und/oder zum ersten Mal Vita Cola zu trinken. Auf der Gegenfahrbahn, also in west-östlicher Richtung, fahren die Menschen hupend und winkend, die Deutschlandfahne schwenkend. Wildfremden erzählt man seine Lebensgeschichte, lauscht der des jeweils anderen. Der Stau wird keineswegs als Belastung empfunden, sondern als Erlebnis, als eine einzige Verbrüderung.
In diesen etlichen Stunden hört man des Öfteren, wie Herr Gieseler dem ein oder anderen Ostdeutschen Unterschlupf in der eigenen Wohnung zusichert. „Wenn ihr nicht wisst, wohin in dieser oder der nächsten Nacht, dann kommt zu mir. Ich wohne in Wolfenbüttel, Lange Straße 19. Da könnt ihr gerne auch übernachten.“ Denn es ist Mitte November und die Nacht ist frostig kalt. Die Leute wollen bloß einmal in den Westen und gucken, wie es dort aussieht.
Zur späten Stunde wieder daheim in Wolfenbüttel: Für den bereits auf der Luftmatratze dösenden Freund aus Göttingen ist es am Abend des 11. Novembers zu spät, um nach Hause zu fahren. Herr Gieseler macht sich im Badezimmer bettfertig, als er beim Zähneputzen plötzlich vom Hof her das typische Zweitakter-Geräusch der Trabbis zu vernehmen glaubt. „Tacktack Tacktack.“ Meine Herren, ein Trabbi in Wolfenbüttel? Das hat’s ja noch nie gegeben, schießt es ihm in den Sinn. Doch da kommt ihm plötzlich ein Gedanke: Ob die vielleicht sogar zu mir wollen? Sind das vielleicht welche, denen ich im Stau meine Adresse gegeben habe?
Und siehe da: Zwei Minuten später klingelt es an der Tür und Herr Gieselers Ein-Zimmer-Appartment muss zum Bettenlager umfunktioniertwerden, in dem zwei größere Familien mit kleinen Kindern plus seinem Freund aus Göttingen und ihm selbst Platz finden. Vor dem Zubettgehen läuft der Referendar noch schnell zur Tankstelle und besorgt Bier, um ein letztes Mal an diesem Tag auf Deutschland anzustoßen. Nach mittlerweile 50 Stunden ohne Schlaf fällt die versammelte Feiergesellschaft in einen komatös anmutenden Zustand. Ausgeschlafen und weiterhin in Hochstimmung wird dann am nächsten Morgen ein Spaziergang in die Altstadt Wolfenbüttels unternommen. Obwohl Sonntag ist, haben alle Geschäfte geöffnet und die Wirte laden jeden freiheraus in ihr Restaurant ein. Man kann bestellen, was man will, und muss nichts bezahlen. Alles geht auf Deutschland.
Immer wieder lässt der junge Referendar fremde Menschen aus der DDR bei sich schlafen und lernt dadurch verschiedenste Menschen kennen, erfährt die buntesten Geschichten und Schicksale.
Als die Grenze dann irgendwann auch in West-Ost-Richtung geöffnet wird, fährt Burghard Gieseler mit seinen Eltern in den Harz. Selbst da ist der aus dem Mauerfall hervorgegangene Freudentaumel dem Alltag noch nicht gewichen. Auf den Straßen werden Neuankömmlinge zur Begrüßung angeblinkt, überall hängen Bettlacken mit der Aufschrift „Kaffee und Kuchen für Bürger der BRD“ aus den Fenstern und die Leute stehen draußen und grillen dir freudig eine Ossi-Bratwurst als Willkommensgeschenk.
„Die Stimmung, die in diesen Monaten November, Dezember, Januar vorherrschte, ist nicht zu greifen, doch am leichtesten mit den Versen aus Schillers „Ode an die Freude“ zu beschreiben: Alle Menschen waren Brüder.
Und doch hat sich das Wunder dieser Zeit direkt an der Berliner Mauer ereignet. Denn die Offiziere an den Grenzübergangsstellen waren eingefleischte Kommunisten mit Schießbefehl, den sie ja auch jahrzehntelang umgesetzt hatten, indem sie auf Flüchtlinge geschossen hatten. Und nun waren sie vorher nicht in die neue Reiseregelung eingeweiht worden, sie hatten keine neuen Befehle erhalten und mussten doch koordiniert mit dem Massenansturm von Menschen verfahren, der da von allen Seiten auf sie zugelaufen kam. Dass in diesen Momenten, eher Stunden und Tagen, kein Grenzer die Nerven verlor und dass sich tatsächlich kein Schuss löste, das ist ein Wunder. Denn wenn die Masse in Panik geraten, vielleicht aggressiver geworden wäre, dann hätten die Soldaten die Menge möglicherweise wirklich gestürmt. Bei einem Blutvergießen hätte es Feuerschutz aus dem Westen gegeben, von den Alliierten oder der Westberliner Polizei, und die ganze Situation hätte zu einem Krieg, möglicherweise sogar zu einem Weltkrieg, eskalieren können. Schließlich weiß man ja, dass die Nationale Volksarmee der DDR schon in Alarmbereitschaft stand, dass die Sowjetunion inklusive des Botschafters unter den Linden die ganze Lage sehr kritisch beäugte. Es ist aber, wie wir alle wissen, glücklicherweise zu keinem Krieg gekommen. Und ebendies ist ein großes Wunder. Dass so viele Menschen, zu denen ich übrigens auch zähle, dieses Wunder herausforderten, indem sie sich in ihrer Euphorie tsunamiartig zur Berliner Mauer begaben und auf diese Weise mit den Grenztruppen anlegten, ist unglaublich. Doch ich kann aus eigener Erfahrung sagen, dass ihnen die Gefahr dieses Umstands in den entscheidenden Momenten überhaupt gar nicht bewusst war. Die Freude über den Mauerfall, über die Verbrüderung der ost- und westdeutschen Bürger war einfach viel zu groß. Dieses Ereignis war einfach viel zu schön.“
Die Euphorie dieser Zeit habe ich auch selber miterleben dürfen, das war ein einmaliges und historisches Erlebnis. Es ist nur Schade, dass davon heutzutage kaum noch etwas übrig geblieben ist, stattdessen wir eine Ost-West Neiddebatte zum Solidaritätsbeitrag geführt.