Es begann mit einer Lüge
Das erste Opfer des Krieges ist die Wahrheit. Dieser Erkenntnis trifft auch auf den Zweiten Weltkrieg zu, der heute vor 80 Jahren am 1. September 1939 begann. Mit inszenierten Grenzüberfällen wollte Hitler den Überfall auf Polen legitimieren. Anzeichen für den bevorstehenden Krieg gab es genügend. Was dann folgte, gehört mit über 55 Millionen Todesopfern zu den größten Katastrophen der Menschheitsgeschichte.
Hitler will den Krieg, doch er möchte vor der Welt nicht als Angreifer dastehen, daher braucht er einen Kriegsgrund. Deshalb verspricht SS-Chef Reinhard Heydrich dem Führer ein geheimdienstliches „Meisterstück, das aller Welt einwandfrei beweist, dass Polen diesen Krieg begann.”
Dass der Kriegsauslöser eine reine Inszenierung sein wird, räumt Hitler in einer geheimen Rede vor seinen Generälen schon am 22. August ein: „Ich werde propagandistischen Anlass zur Auslösung des Krieges geben, gleichgültig, ob glaubhaft.“ Hitler ist sich sicher: „Der Sieger wird später nicht danach gefragt, ob er die Wahrheit gesagt hat oder nicht.“
Eine kleine Gruppe von Männern macht sich ca. zwei Wochen vor Beginn des Krieges gemeinsam mit dem 27-jährigen SS-Sturmbannführer Alfred Naujocks auf nach Gleiwitz, eine Stadt in Oberschlesien, nahe der polnischen Grenze. Dort befindet sich auch der Sender Gleiwitz. Am Nachmittag des 31. August 1939 ist es dann soweit. Naujocks erhält aus Berlin das geheime Codewort „Großmutter gestorben“ und begibt sich mit 5-6 Männern, die mit Maschinenpistolen bewaffnet sind und in Zivilkleidung polnische Rebellen darstellen sollen, gegen 20 Uhr zum Sendegebäude.
Die dort zuvor stationierten bewaffneten Wachen sind abgezogen worden. Die Männer gehen ins Betriebsgebäude, überwältigen die Techniker und bringen sie in den Keller. Da man vom Gebäude aus eigentlich nicht senden kann, muss man mithilfe eines sogenannten Gewittermikrofons sich Zugriff auf den Sender verschaffen. In deutscher und polnischer Sprache wird dann angeblich zum Widerstand der polnischen Minderheit aufgerufen: Achtung! Achtung! Hier ist Gleiwitz. Der Sender befindet sich in polnischer Hand (…) Die Stunde der Freiheit ist gekommen!” Nach knapp 4 Minuten endet der Aufruf mit „Hoch lebe Polen!“ Als die Männer schließlich das Sendergebäude verlassen, lassen sie einen auf dem Boden liegenden Körper zurück. Es ist die Leiche des Oberschlesiers Franciszek Honiok, eines 41-jährigen Vertreters für Landmaschinen, der öffentlich mit Polen sympathisiert. Am Vortag ist er von zwei Männern der Geheimen Staatspolizei verhaftet worden; von einem SS-Arzt betäubt betäubt wird Honiok vermutlich anschließend erschossen. Der Tote soll den Anschein erwecken, als sei er einer der Männer gewesen, die die Radiostation überfallen haben. Er ist also der „Beweis“ für einen Übergriff polnischer Freiheitskämpfer auf deutsches Territorium. Franciszek Honiok ist der erste Tote des Zweiten Weltkriegs. Über 55 Millionen weitere Tote sollten in den kommenden 6 Jahren folgen.
Da der Sender Gleiwitz nur eine geringe Sendereichweite hat, bleibt die erhoffte mediale Wirkung des fingierten Überfalls aus. Andere SS-Kommandos verüben weitere Scheinattacken an der deutsch-polnischen Grenze: Circa 30 als polnische Soldaten verkleidete Männer überfallen die Zollstation bei Hochlinden, schießen um sich, grölen polnische Parolen, verwüsten das Gebäude und lassen sechs Tote zurück – die Toten, die die SS-Männer zurücklassen, sind ermordete KZ-Häftlinge. Eine dritter inszenierter Überfall richtet sich gegen das Forsthaus Pitschen in der Nähe von Kreuzburg.
Nach den Überfällen läuft die Propagandamaschine auf Hochtouren. Schon ab 22:30 Uhr wird im Rundfunk über sich häufende Zwischenfälle an der deutsch-polnischen Grenze berichtet. Um 4:47 feuert das im Danziger Hafen befindliche Schulschiff Schleswig-Holstein auf ein befestigtes polnisches Munitionslager auf der Westerplatte. Der militärische Überfall auf Polen hat begonnen.
Am nächsten Morgen tritt Hitler in der Krolloper vor den Reichstag und macht Polen zum Aggressor. Er verkündet, Polen habe “heute Nacht zum ersten Mal auf unserem eigenen Territorium auch durch reguläre Soldaten geschossen. Seit 5:45 Uhr wird jetzt zurückgeschossen.” Zwei Tage später erklären Großbritannien und Frankreich nach einem verstrichenen Ultimatum den Krieg.