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„Wir können nicht mehr, als wir schon tun.“

Die Flüchtlingskrise ist auch in Niedersachsen angekommen. Im Interview mit laurentinews.de verrät Niedersachsens Innenminister Boris Pistorius (SPD), was ihm in der Flüchtlingskrise am meisten Sorgen bereitet.

laurentinews.de: Was geht Ihnen durch den Kopf, wenn Sie beim Bäcker eine achtköpfige Familie aus Syrien treffen?

Pistorius: "Die Zuwanderung macht mir keine Angst, aber sie macht mir Sorgen."

Pistorius: “Die Zuwanderung macht mir keine Angst, aber sie macht mir Sorgen.”

Boris Pistorius: Erstmal bin ich froh, dass die Familie in Sicherheit ist. Mein zweiter Gedanke ist die Hoffnung, dass diese Menschen es schaffen werden, bei uns Fuß zu fassen, unsere Sprache zu erlernen und für die Zeit, in der sie hier sind, ihren Platz in der Gesellschaft zu finden.

Macht Ihnen die massenhafte Zuwanderung gar keine Angst?

Sie macht mir keine Angst, aber sie macht mir Sorgen. Das letzte Mal, dass so viele Menschen in Deutschland Obdach suchten, war nach dem Zweiten Weltkrieg. Nur sprachen diese Flüchtlinge Deutsch und kamen aus demselben Kulturkreis. Was hilft es uns, die Menschen, die kommen, in Sicherheit zu bringen, wenn wir es nicht schaffen, sie in unsere Gesellschaft zu integrieren? Das wird eine große Aufgabe sein, die sicherlich eine gesamte Generation in Anspruch nehmen wird.

Viele Ihrer Mitbürger fürchten einen Werteverfall, steigende Arbeitslosenzahlen und sinkende Standards. Sind ihre Ängste berechtigt?

Wer seine Ängste sachlich artikuliert, hat ein volles Recht, von uns ernst genommen zu werden. Wir Demokraten müssen verhindern, dass Rechtsradikale und Rechtspopulisten Erfolg dabei haben, sie sich das zu Nutze zu machen. Sollte theoretisch in zehn Jahren in Deutschland Not und Elend ausbrechen, was wir alle nicht hoffen wollen, dann verspreche ich Ihnen, dass Sie Kind und Kegel nehmen und versuchen werden, irgendwo anders an Land zu kommen, wo bessere Chancen auf Sie warten. Deshalb haben alle Menschen, die zu uns kommen, unseren Respekt verdient – egal ob sie aus der Armut oder aus dem Bürgerkrieg fliehen. Wir müssen jetzt dafür sorgen, dass sich auch die die teils geäußerten Ängste aus unserer Bevölkerung nicht realisieren.

In einem Interview sagten Sie, dass Sie den Bau von Flüchtlingsunterkünften nach Aldi-und Lidl-Vorbild bevorzugen würden – mehrfach immer das gleiche Gebäude. Wo würden Sie solche Unterkünfte errichten wollen? Eine 1000-Mann-fassende Unterkunft in einem 100-Seelenörtchen wie Sumte?

Wir sind längst über den Punkt hinaus, uns aussuchen zu können, wo wir Einrichtungen bauen. Im Moment bauen wir auch noch nicht, wir machen vor allem Bestandsimmobilien bewohnbar. Dafür nehmen wir jede Unterkunft, die einigermaßen nutzbar ist – ob in Sumte oder woanders, wir müssen es tun. Sonst schlafen die Menschen auf der Straße, und das kann niemand wollen.

Würden Sie es denn bevorzugen…? (Pistorius unterbricht)

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“Ich habe keine Alternativen!”

Ich habe keine Alternative. Wir haben am Sonntag mit der Kanzlerin zusammengesessen und sie gefragt, was wir machen sollen, wenn wir im Dezember die ersten Flüchtlinge nicht mehr unterbringen können und sie auf der Straße in selbstgebauten Zelten kampieren. Darauf hatte sie keine Antwort. Wir müssen alles tun, um solche Umstände zu verhindern. Denn gigantische Grenzanlagen passen nicht in ein freizügiges Europa, wie wir es seit Jahrzehnten kultiviert haben.

Wäre es nicht in Anbetracht der Gewaltszenen, die sich in einigen Flüchtlingsheimen abspielen, besser, Asylsuchende dezentral unterzubringen?

Natürlich. Aber die erste Station der Flüchtlinge in Deutschland sind notwendigerweise Landeserstaufnahmeeinrichtungen. Dort werden die Menschen registriert und medizinisch untersucht. Ein paar Wochen später werden sie dann auf die Kommunen verteilt und im besten Fall in Wohnungen und Häusern, also dezentral, untergebracht. In den Erstaufnahmeeinrichtungen gab es tatsächlich auch einige wenige Schlägereien und größere Auseinandersetzungen; die Polizei hat diese aber sehr schnell unter Kontrolle gebracht. Wer schon einmal ein Flüchtlingsheim besucht hat, weiß auch, dass es dort nicht wie bei Sodom und Gomorra zugeht. Ethnisch bedingt sind die Konflikte keinesfalls, der Grund liegt in kleinen, oft unbedeutenden Alltagsstreitereien. Jeder, der schon einmal im Hochsommer in einem zu eng aufgebauten Zeltlager oder in einem total überfüllten Zug war, weiß, welche Spannungen sich plötzlich aus dem Nichst aufbauen können. Zusätzlich sind die Flüchtlinge von großer Ungewissheit und oft traumatischen Erlebnissen geplagt. Wann kommen sie raus? Wohin kommen sie? Werden sie in Deutschland bleiben dürfen?

Das Wirtschaftsberatungsinstitut Empirica hat ermittelt, dass in Deutschland 1,7 Millionen Wohnungen leer stehen – vor allem auf dem Land. Könnte man das nicht als Chance sehen?

Sicherlich, im Idealfall werden die Menschen dort untergebracht, wo sie sich integrieren können: da wo andere Menschen sind. Auf dem Land sind nicht nur die Freizeitmöglichkeiten aber beschränkt, da zum Beispiel die Busanbindungen nicht optimal ausgebaut sind.  Aber dort bekommen die Flüchtlinge zumindest die Chance, erst einmal anzukommen und sich zu orientieren. Angesichts ihrer hohen Zahl werden wir auch nicht umhin kommen, all diese Möglichkeiten auszuschöpfen.

Finden Sie, Flüchtlinge sollten direkt nach ihrer Ankunft und nicht erst drei Monate später arbeiten dürfen oder sogar müssen?

Moment! Das Asylrecht ist nichts, das man sich als Staat mit Arbeit vergüten lassen darf. Das Asyl ist ein verfassungsmäßiges Grundrecht. Was ich aber nicht für sinnvoll halte, ist eine Arbeitserlaubnis während des Aufenthalts in einer- Erstaufnahmeeinrichtung, weil die Flüchtlinge ihre Arbeit bei der Umverteilung auf die Landkreise sowieso verlieren würden.  Grundsätzlich glaube ich aber, dass die Menschen so früh wie möglich arbeiten dürfen sollten. Leider gelingt das nicht immer. Ich gebe Ihnen ein Extrembeispiel: Ein syrischer Theologe spricht womöglich viele antike Sprachen, aber kein Wort Deutsch. Wenn er zudem kein großes handwerkliches Geschick aufweist, wird er bei einer Handwerksfirma nicht eingestellt, selbst, wenn die Firma Arbeitskräfte sucht. Als Voraussetzung dafür, dass Flüchtlinge arbeiten können, sind Sprachkurse wichtig, eine frühe Erfassung der Qualifikationen und die Beantwortung der Frage: Wenn jemand keine Qualifikationen hat, in welchem Beruf könnte er trotzdem arbeiten?

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“Selbst wenn wir vor einem halben Jahr gewusst hätten, was auf uns zukommt, hätten wir uns auf die vielen Menschen nicht vorbereiten können.”

Was macht das hohe Flüchtlingsaufkommen in Deutschland zur Krise?

Die Geschwindigkeit: Pro Tag kommen inzwischen mehr als 1000 Menschen zu uns nach Niedersachsen. Außerdem war überhaupt nicht vorherzusehen, wie viele Menschen kommen. Im April lag die Prognose bei 250.000 Menschen für dieses Jahr, im August schon bei 800.000, ich glaube es wird eine Million, wenn das überhaupt reicht. Wie fast alle anderen Bundesländer laufen wir am Limit. Wir finden keine weiteren Kasernen und keine leerstehenden Gebäude, in denen wir Menschen unterbringen können.

Was läuft denn schief?

Es läuft nichts schief. Kein Staatswesen der Welt kann sich in der Kürze der Zeit auf so einen Menschenstrom vorbereiten. Erlauben Sie es mir, einen hinkenden Vergleich anzuführen: Wenn eine Naturkatastrophe kommt, muss man reagieren, nicht antizipieren. Niemand kann eine Naturkatastrophe vorhersehen und selbst wenn wir vor einem halben Jahr gewusst hätten, was auf uns zukommt, hätten wir uns auf die vielen Menschen nicht vorbereiten können. Ich möchte realistisch bleiben und sagen, wir können nicht mehr, als wir schon tun. Aber das ist eine Menge!

 

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