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Sexsucht – Wenn die Lust zur Last wird

Die Wollust, die starke sexuelle Lust und Begierde, erscheint in unserer liberalen und aufgeklärten Gesellschaft weder eine Sünde noch ein Problem zu sein. Doch es gibt immer mehr Menschen, für die die Lust zur Last wird. Für Sex- und Liebessüchtige nimmt der Drang nach Sexualität immer schlimmere Formen an und zerstört Beruf, Familie und die Selbstachtung.

Seitdem sich Prominente wie Tiger Woods als sexsüchtig geoutet haben, erscheint für viele die Sexsucht eher wie eine Mode-Krankheit. Für manche mag es auch eine praktische Entschuldigung und Ausrede sein, wenn man den Partner mal wieder betrogen hat. Doch wieviel Sex ist “normal”? Ist jeder, der viel Sex hat, gleich gestört und sexsüchtig? Wo liegt die Grenze zwischen Spaß am Sex und Sexsucht?
Süchtige leiden unter ihrem Verhalten und sind nicht in der Lage ihre Sexualität zu kontrollieren. Oft verschulden sich die Betroffenen, weil sie immer wieder zu Prostituierten gehen, verbringen unzählige Stunden vor dem Rechner um Pornographie zu konsumieren, verpassen wichtige Termine, isolieren sich zunehmend und zerstören Freundschaften und Beziehungen.

Wir hatten die Gelegenheit mit Matthias (Pseudonym) über das Thema zu sprechen. Matthias ist Mitte 40, verheiratet, Vater eines mittlerweile erwachsenen Kindes und sieht sich selbst als Sex- und Liebessüchtigen – und das schon von Kindheit an. Er besucht seit Jahren eine Selbsthilfegruppe zum Thema nach dem Vorbild der Anonymen Alkoholiker und bezeichnet sich heute als „trocken“.

laurentinews.de: Gibt es bestimmte Symptome, die darauf hindeuten, dass man sexsüchtig ist?
Matthias: Das mit der Definition von „sexsüchtig“ ist nicht so einfach – und auch ich bin ja kein Experte, außer für mich selbst. Aber das Bewusstsein, dass etwas nicht stimmt, ist bei den meisten wahrscheinlich schon länger da. Man fängt an, bestimmte Dinge heimlich zu tun, kann nicht davon lassen, isoliert sich schleichend und vernachlässigt sein Leben. Das sind in der Regel die ersten Symptome, dass etwas nicht stimmt.

Gab es einen bestimmten Moment, in dem Sie für sich selber begriffen haben „Ich bin sexsüchtig und brauche Hilfe!“?
Bei mir persönlich hat es sich durch Scheitern in vielfacher Hinsicht gezeigt – meine Beziehungen waren voller Konflikte, beruflich war ich desorientiert. Ein Tiefpunkt war sicherlich, dass ich eines Tages für vier Menschen unterhaltspflichtig war, aber selber grade mein Studium abgebrochen hatte. Das war das Ergebnis von erotischen Verwicklungen, die mit Sexualität anfingen und ungefragt in Beziehungen mündeten. An diesem Punkt wurde mir unweigerlich klar: „So gelingt dein Leben nicht!“

Wie äußerte sich ihre Sexsucht konkret?
Die Symptome wechselten durchaus. In meiner „Hochphase“ war ich stundenlang besetzt durch sexuelle Fantasien. Ich habe während der Arbeit ständig darüber nachgedacht, wo und wie ich zum Feierabend ein Bordell aufsuche. Eine Konzentration auf meine Arbeit war so gar nicht mehr möglich. Ich habe ganze Wochenenden damit verbracht, Pornographie und Telefonsex zu konsumieren, anstatt mich um meine sozialen Kontakte und mein eigenes Leben zu kümmern.

Ich habe meine Einsamkeit wegonaniert.

Bei Süchten gibt es häufig wiederkehrende Verhaltensmuster. Trifft das auch auf die Sexsucht zu?
Ja, nach so einem Wochenende war mein Selbstwertgefühl natürlich ganz unten und doch durchläuft man immer wieder den Zyklus von Selbstbeschämung ‚Ich kann nicht lassen, was ich da tue‘ und dem Abschwören ‚Ich werde es nie wieder tun‘ und nach nur wenigen Tagen „passiert“ es dann doch wieder.

Begann die Sexsucht bei Ihnen in der Pubertät?
Ich sehe den Beginn der Sexsucht bei mir eigentlich früher, denn Masturbation hatte für mich auch schon während meiner Kindheit einen hohen Stellenwert.

Worin lag die Ursache für dieses Verhalten?
Ich erinnere keine Form von sexuellem Missbrauch, aber in meiner Familie gab es häufig Streit und Gewalt zwischen den Eltern, aber auch gegen mich und meine Geschwister. Ich habe mich dann in die Beschäftigung mit mir selbst geflüchtet, also in die Masturbation und habe meine Einsamkeit sozusagen „wegonaniert“. Es war eine wunderbar einfache Möglichkeit, mir schöne Gefühle zu verschaffen. Als ich dann in die Pubertät kam, kamen unzählige Verliebtheiten und Phantasien dazu. Ich ging viel auf Partys, flirtete, verabredete mich und fing Affären an… Das war zunächst wie ein Schlaraffenland für mich.

Wären sie nicht sexsüchtig geworden, wenn sie in einer intakten Familie aufgewachsen wären?
Das kann ich nicht sagen, ich habe ja nur diese eine Biographie. Aus heutiger Sicht wundere ich mich nicht, dass ich aufgrund meiner damaligen Familiensituation diesen Weg gewählt habe. Er hat mich ein Stück weit vor der Kälte dort gerettet – allerdings zu einem hohen Preis.

Den Besuch bei Prostituierten empfand ich als beschämend.

Haben Sie später nach einem Menschen gesucht, der Ihnen schwarz auf weiß diagnostizieren konnte, dass sie sexsüchtig sind?
Nein, das habe ich nicht. Mir war irgendwann sehr bewusst, dass mein Leben so nicht in Ordnung ist. Also habe ich mir Hilfe gesucht, zunächst in diversen Psychotherapien. Leider sind viele Therapeuten aber mit dem Thema Sucht überfordert. Ich konnte dort meine Situation immer wunderbar reflektieren, nur an meinem Alltag hat es nichts geändert. Als mir mein Problem irgendwann selber klar war, habe ich mir dann einen erfahrenen Therapeuten gesucht, unter der expliziten Vorgabe, er möge mit mir zu meiner Sexsucht arbeiten. Er hat mir auch zur Auflage gemacht, eine Selbsthilfegruppe aufzusuchen. Der bewegendste und gleichzeitig befreiendste Augenblick war für mich sicherlich der, als ich dann zum ersten Mal dort saß und den Satz: „Ich bin sexsüchtig.“ vor allen anderen ausgesprochen habe. Da war ein jahrelanges Davonlaufen auf einmal zu Ende.

Hängt das Empfinden ‚Ich bin sexsüchtig‘ nicht auch im Wesentlichen von den moralischen Werten ab, die ein Mensch hat?
Was wir heute als problematisches Verhalten werten, wäre vielleicht in den 70er Jahren noch als Akt der Selbstbefreiung durchgegangen. Die gesellschaftlichen Kontexte mögen also durchaus bei der Bewertung des eigenen Handelns eine Rolle spielen. Und doch ist mein eigenes Empfinden für mich der eigentliche Maßstab. Wenn ich neben aller Erregung beim Besuch einer Prostituierten die Beschämung empfinde, grade hier nach Erlösung zu suchen und einen anderen Menschen mit Geld dafür bezahle, seinen Körper benutzen zu dürfen – dann weiß ich einfach, dass ich hier am falschen Ort bin. Diese Erfahrung ist so intensiv, dass sie sehr für sich selbst spricht. Das ist dann keine Frage der Moral mehr.

Sind Sie auch schon Sexsüchtigen begegnet, die ihre Sexsucht nicht als belastend empfinden, sondern eher als Ausdruck einer großen Potenz verstehen?
Wir haben unsere Körper um damit schöne Gefühle zu erleben. Wenn jemand also seine Körperlichkeit genießt und dabei die Grenzen seiner Mitmenschen wahrt, warum nicht? Ich habe nicht die Ambition, jemand anderem die Diagnose ‚sexsüchtig‘ überzuhängen. Man sollte es erst ansprechen und problematisieren, wenn durch dieses Verhalten andere Menschen in Mitleidenschaft gezogen werden, z.B. indem man ihnen ungefragt Sexualität aufdrängt. Oder man den Verdacht hat, dass da einer mit übertriebener Sexualität nur versucht, seinen Ängsten oder seinem Kummer davon zu laufen.

Ist Sexsucht eine typische Männerkrankheit oder gibt es auch genauso viele sexsüchtige Frauen?
Aus meiner persönlichen Beobachtung innerhalb der Selbsthilfegruppen kann ich sagen, dass dort bestimmt die Hälfte der Betroffenen Frauen sind. Die Symptomatik ist jedoch bei Frauen häufig anders. Frauen bezeichnen sich eher als liebessüchtig, sie führen also destruktive Beziehungen oder verharren im Sehnen und Sich-Bereithalten. Männer haben häufiger die Thematik der Pornographie und Prostitution. Letztendlich gibt es aber beide Verhaltensmuster auch beim jeweils anderen Geschlecht.

Ich fühle diesen Druck in mir und kann mit niemandem darüber reden.

Hatten Sie ein Outing, bei dem Sie Freunden und ihrer Familie ihre Sexsucht gestanden haben?
Ich habe eine sogenannte Inventur gemacht und aufgeschrieben, welches Ausmaß die Sucht in meinem Leben und Alltag mittlerweile angenommen hatte. Also mit wie vielen Prostituierten ich Kontakt gehabt habe, wie viele Affären ich hatte und wie viele Stunden ich pro Woche im Internet mit Pornographie verbracht habe. Es war erschreckend.
Diese Inventur habe ich dann in meiner Selbsthilfegruppe geteilt, aber es war mir auch ein Anliegen, trotz aller Scham, meinen engsten Freunden und meiner Familie ein Bild davon zu geben, mit wem sie es eigentlich da zu tun haben. Ich wollte keine Geheimnisse mehr haben. Danach habe ich den Ausgleich mit den Menschen gesucht, denen ich mit meiner Sucht Schaden und Schmerz zugefügt habe. Aber da muss man sehr sorgfältig abwägen, ob man eine Wiedergutmachung erreichen kann oder vielleicht den anderen nur erneut verletzt.

Wie haben Familie und Freunde auf diese Nachricht reagiert?
Da war vor allem Bestürzung und Kummer, das Ausmaß meiner inneren Not nicht wahrgenommen zu haben. Ich war offensichtlich in diesen Dingen ein guter Schauspieler.

Wenn man sich selber seine Sexsucht eingestanden hat und auch seinem Umfeld davon erzählt hat, wie geht es dann weiter?
Vor allem mit dem ganz praktischen, tagtäglichen Aufhören. Auf längere Sicht war es für mich aber ein spiritueller Weg. Das soll jetzt nicht so abgehoben klingen, aber der Kern meiner Sucht war ein dauerhaftes Ich, Ich, Ich. „Ich fühle diesen Druck in mir, ich brauche deswegen jetzt dies oder jenes, ich kann mit niemanden darüber reden.“ Aber ich kann nicht aufhören.
Im Rahmen des Programmes, das der Selbsthilfegruppe, die ich besucht habe, zu Grunde liegt, geht es darum, mit diesem ständigen Ich, Ich, Ich aufzuhören und sich zu fragen, ob da nicht noch etwas außer meinem eigenen ständigen Drama ist. Den Gedanken zulassen, dass da eine Kraft ist, die wohlwollend auf mich schaut und den guten Weg sucht. Sei es der Geist der Gruppe, in der ich gerade sitze, Gott oder welchen Begriff man auch immer dafür findet. Daran zu glauben, dass es eine, ich nenne es mal „höhere und doch innere Macht“ gibt, die ein anderes, ein aufrechteres Bild von mir hat als ich selbst. Das war natürlich nach all den Niederlagen ein weiter Weg. Aber sich dieser Macht anzuvertrauen und jeden Tag erneut darum zu bitten, nicht wieder tun zu müssen, was ich nicht mehr tun wollte, das hat mich ein ganzes Stück weit erlöst.

Wenn ein Alkoholiker abstinent lebt, dann bedeutet es ja, dass er vollkommen auf den Konsum von Alkohol verzichtet. Was bedeutet Abstinenz bei einem Sexsüchtigen?
Sexualität gehört ja zum Leben, insofern ist das mit der Abstinenz natürlich nicht so einfach. Wobei es für mich eine Zeit lang nach all dem auch eine spannende und wichtige Erfahrung war, mal mit allem – Beziehungen, Flirten, Sex, Masturbation, Pornographie – aufzuhören und einfach nur für mich da zu sein. Im Rahmen der Selbsthilfegruppen gibt es da sehr unterschiedliche Empfehlungen. Bei manchen heißt Abstinenz, nur noch Sexualität nur mit dem Ehepartner zu leben.
In meiner jetzigen Selbsthilfegruppe definiert jeder sein sogenanntes „süchtiges Verhaltensmuster“ selbst. Das birgt natürlich die Gefahr jeder Menge „blinder Flecken“. Wenn ich feststelle, dass ich etwas nicht lassen kann, dann sollte es mal für eine Zeit lang auf die Liste. Bei so etwas wie Prostitution ist es vermutlich offensichtlich, aber bei der Masturbation ist das für viele schon nicht mehr so eindeutig. Ich selber hatte jahrelang Pornographie auf meinem Index, es gehörte ja zu meinen ständigen Mustern, aber inzwischen fühle ich mich dadurch nicht mehr so bedroht.

Die Sexsucht bleibt eine tägliche Herausfroderung.

Wie hoch ist das Risiko in alte Verhaltensmuster zurückzufallen?
Es gab eine Zeit, da hat es schon gereicht, eine lachende, junge Frau auf einem Werbebanner einer Website zu sehen, um den ganzen Abend Pornographie zu konsumieren. Ich bin froh darüber, dass dieser Druck inzwischen von mir genommen wurde. Über die Jahre ist da eine innere Distanz und eine Freiheit zur Entscheidung gewachsen, über die ich sehr dankbar bin. Auf der anderen Seite bin ich nach vielen Jahren noch immer in meiner Selbsthilfegruppe aktiv und bin sehr froh darüber, dort weiterhin Bestärkung und Orientierung zu erfahren.

Ein Alkoholiker kann den gesamten Alkohol aus seiner Wohnung verbannen, um nicht in Versuchung zu geraten. Bei einem Sexsüchtigen muss das doch enorm schwierig sein. Jeder Laptop mit Internetanschluss muss für einen Sexsüchtigen doch in etwa das Gleiche sein wie eine vollgefüllte Minibar für einen Alkoholiker.
Ja, das ist so. Die beständige Verfügbarkeit jeder Art von Pornographie, Chatportalen oder Informationen zum nächsten Bordell um die Ecke, auch und gerade in den eigenen 4 Wänden, verbunden mit äußeren Anforderungen zu kommunizieren oder den Beruf macht es vielen sehr schwer, sich gut zu schützen. Es gibt natürlich diverse Strategien: Einige verzichten ganz auf das Internet oder gehen nur bei Freunden oder an öffentlichen Orten ins Netz, andere nutzen entsprechende Filterprogramme. Smartphones haben es nicht einfacher gemacht. Für viele bleibt es eine tägliche Herausforderung.

Haben Sie das Gefühl, dass Sexsucht durch die zunehmende Sexualisierung der Medien und der Gesellschaft für immer mehr Menschen ein Problem geworden ist?
Zumindest in den Selbsthilfegruppen scheint für viele Männer Internetpornographie ein großes Thema zu sein.

Hat Sexsucht auch körperliche Folgen?
Natürlich gibt es die Frage der Geschlechtskrankheiten oder Infizierungen mit HIV. Im Zuge vieler Eroberungen ist es für manche Sexsüchtige zweitrangig sich zu schützen. Aber in den meisten Fällen wiegen die sozialen und wirtschaftlichen Folgen schwerer.

Es ist wie bei Gollum und seinem Ring.

Wie verheerend können die wirtschaftlichen Folgen sein?
Die Folgen können sehr schlimm sein: Arbeitsplatzverlust, Trennungen samt Unterhaltszahlungen, hohe Geldaufwendungen für Prostituierte, vierstellige Telefonrechnungen aufgrund von Telefonsex.

Wie geht man mit dem Thema Sexsucht in einer Beziehung um, insbesondere wenn man sich kennenlernt? Sagt man „Hallo, ich bin der oder die XY und ich bin sexsüchtig!“?
Wenn man den anderen unbedingt vertreiben will, kann man das natürlich probieren. Nein, im Ernst, für mich hat es nicht an den Anfang einer Beziehung gehört, aber ab einem gewissen Zeitpunkt war es mir schon wichtig, über meine Sucht zu sprechen. Es ist ja ein Teil von mir, vieles in meiner Biographie lässt sich nur so erklären. Dabei ist es aber auch wichtig, dass man den Partner nicht in eine Kontrollfunktion hineinzieht, in die er nicht gehört und die Verantwortung für sich selber behält. Ich habe offen gesagt, dass ich sexsüchtig bin, nach welchen Regeln ich lebe und was ich dafür tue, um „trocken“ zu bleiben. Außerdem denke ich, dass jemand der seine Sexsucht noch aktiv auslebt, nicht unbedingt eine Beziehung beginnen sollte.

Gibt es auch Möglichkeiten der medikamentösen Behandlung von Sexsucht und käme dies für Sie infrage?
Ich bin da kein Experte und auch kein Mediziner. Wenn ich meinen Stress oder meine Einsamkeit sexualisiere, dann hilft es mir natürlich wenig, meinen Sexualtrieb zu dämpfen. Ich kenne eine solche Therapie auch nur im Zusammenhang von Menschen mit pädophilen Neigungen. Für mich selber erscheint mir die Einnahme eines Medikaments absurd. Und es würde auch verschenken, was auf dem Weg zu einer Gesundung zu gewinnen ist: Sich selbst kennen und akzeptieren zu lernen, erwachsen zu werden und für mich auch, ein Stück weit demütig zu werden.

Wie würden sie die Sexsucht metaphorisch darstellen?
Ich finde das Bild von Gollum aus dem „Herrn der Ringe“ und seinem Schatz, eben dem Ring, sehr passend. Dieser Ring beherrscht Gollums ganzes Leben und er verfällt ihm mit der Zeit. Er vereinsamt immer mehr und ist nur noch fixiert auf diesen „Schatz“. Das ist für mich ein sehr treffendes Bild für einen unerlösten Süchtigen, das beschreibt auch mich in der Zeit meines Ausagierens sehr gut.

Macht Sexsucht einsam?
Absolut, denn es sind letztlich sehr einsame Handlungen die wir tun. Wir hängen Phantasien hinterher, selbst wenn wir mit anderen zusammen sind oder verbringen viele Stunden im Internet und am Telefon mit Menschen, die wir gar nicht kennen. Wir bezahlen Fremde für Sexualität und zerstören unsere Beziehungen. So sind wir keine guten Partner, Väter, Mütter. Das macht das Leben auf jeden Fall sehr einsam.

Das Gespräch über den eigenen Umgang mit Sexualität ist immer noch tabuisiert.

Wenn nun jemand dieses Interview liest und sich in vielen Dingen wiedererkennt, was würden Sie diesem Menschen raten?
Ganz klar: Aufhören mit der Selbstisolation! Nach aussen gehen, Hilfe suchen, so schwer oder beschämend es zunächst auch sein mag. Bestimmt gibt es Menschen, die alleine mit diesem Verhalten aufhören können oder die einen Partner finden, der ihnen dabei hilft. Für mich war das jedoch eine falsche Hoffnung, die mich jahrelang in der Sucht gehalten hat. Die größte Unterstützung, die meiste Kraft zur Veränderung habe ich durch meine Selbsthilfegruppe erfahren. Sich mit anderen Betroffenen zu verbinden und sich gegenseitig dabei zu bestärken, mit dem negativen Verhalten aufzuhören – das birgt meiner Erfahrung nach die größte Aussicht und Hoffnung auf eine positive Veränderung. Es gibt in jeder größeren Stadt Selbsthilfekontaktstellen, aber auch ein Gespräch mit dem Hausarzt kann helfen, dazu gibt es auf Suchtproblematiken spezialisierte Therapeuten und Kliniken, die von der Krankenkasse bezahlt werden.

Auch viele Stars wie z.B. Jack Nicholson, Michael Douglas und Tiger Woods haben sich als sexsüchtig geoutet. Sind solche Outings hilfreich oder machen sie die Krankheit eher schick und salonfähig?
Vielleicht hilft es einem Sexsüchtigem zu sehen, dass auch augenscheinlich so erfolgreiche Menschen ihr Leben manchmal nicht in der Hand haben. Aber man wird sich nicht auf einmal hip vorkommen, nur weil ein Tiger Woods in der Öffentlichkeit seine Sexsucht gesteht. Dafür ist die eigene Not und das Zerstörungspotential auf allen persönlichen Ebenen durch diese Krankheit viel zu groß.

Sollte denn das Thema Sexsucht dennoch stärker im Fokus der Öffentlichkeit stehen?
Man muss ja natürlich nicht überall sofort das Etikett „Sucht“ draufkleben. Dennoch gibt es wahrscheinlich sehr viele Menschen, für die es gut wäre, sich kritische Fragen nach ihrem Umgang mit ihrer Sexualität, ihren Vorstelllungen und Phantasien oder ihrem Pornographiekonsum zu stellen. Es wäre sehr befreiend, ein Gegengewicht in Form eines offenen und öffentlichen Diskurses zur Schattenwelt im Internet zu haben.

Muss auch die Schule diese Thematik stärker aufgreifen? Viele Schülerinnen und Schüler sind heutzutage mit Pornographie – gewollt und oft auch ungewollt – konfrontiert.
Zumindest die im Internet frei verfügbare Pornographie zeigt ja ein sehr einseitiges Bild von Sexualität: Der Mann wird bedient, die Frau erniedrigt. Das ist keine Sexualität auf Augenhöhe; sie ist nicht besonders phantasievoll und zeichnet ein sehr einseitiges Geschlechterbild. Ja, wünschenswert wäre eine Thematisierung dieser Festlegungen auch in der Schule; wobei Schule natürlich nicht alles können muss und kann. Auch Eltern und Freunde sind hier gefragt. Alle reden über Sex, aber eigentlich ist das Gespräch über den eigenen Umgang mit Sexualität immer noch unglaublich tabuisiert.

Aus meiner Sicht sollte jedoch ebenso das Thema „Liebessucht“ angesprochen werden. Schalten wir das Radio ein oder gehen ins Kino dringt unaufhörlich die Botschaft zu uns: „Wenn ich nur den richtigen Partner habe, ist mein Leben wunderbar!“. Dabei ist jeder selber für die Zufriedenheit in seinem Leben verantwortlich. Ich denke, Jugendliche zahlen einen hohen Preis für diese nicht hinterfragten Rollen in Liebe und Sexualität. Stattdessen sollten wir sie beständig ermutigen, heraus zu finden, wer sie selbst sein wollen, abseits dieser Stereotypen. Bei meinem eigenen Kind zu erleben, wie wenig innere Freiheit da war und wie hoch der Aufwand, einem aus meiner Sicht eher sexualisierten Fremdbild zu entsprechen – das hat mir als Vater Kummer gemacht.

Wir danken Ihnen für dieses interessante und aufschlussreiche Interview.

Für weitere Informationen zum Thema Sex- und Liebessucht empfehlen wir den Besuch folgender Webseiten:

Selbsthilfegruppe Anonyme Sex- und Liebessüchtige SLAA e.V.

Bin ich sexsüchtig? 40 Fragen zur Selbstdiagnose

Die 12 Schritte der Anonymen Sex- und Liebessüchtigen

Literatur: Anonyme Sex- und Liebessüchtige

Ein sehr interessantes Statement zum Thema Pornographie könnt ihr euch hier anschauen:

1 Kommentar

  1. Vielen Dank für dieses Interview! Es ist so wichtig, das Sexsucht endlich als Krankheit erkannt wird. Ich bin selber sexsüchtig und musste als erstes lernen, dass ich nicht ein schlechter Mensch bin, der gut werden will, sondern ein kranker Mensch, der gesund werden möchte. Über meine Erfahrung mit dem Gesundwerden von der Sexsucht schreibe ich seit einigen Jahren auf meinem Blog: meinwegausdersexsucht.info. Neben SLAA gibt es auch noch die Anonymen Sexaholiker, denen ich angehöre, und die bundesweit und telefonisch Meetings anbieten.

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