Tabuthema Tod
„Lass mich los“, sagte sie. „ich gehe jetzt.“
Wie konnte sie nur derartiges von ihm verlangen? Er liebte sie doch. Ja, er liebte sie. Er konnte sie nicht loslassen. Aber er hatte gewusst, dass sie gehen würde.
„Ich…“ Das Sprechen viel ihr von Wort zu Wort schwerer. Sie keuchte auf. „Versprich mir, dass du nicht allein bleibst.“ Er antwortete nicht. „Versprich mir“, Ihre Stimme war kaum mehr ein Flüstern. „dass du wieder jemanden lieben wirst.“ Er schaute ihr in die Augen. „Ich liebe dich. Ich kann niemanden anders lieben.“ Ungeachtet ihrer Qual hielt sie den Blick mit bemerkenswerter Standhaftigkeit auf sein Gesicht gerichtet.. „Du wirst es lernen.“ Diese mühsam hervorgebrachten Worte sollten ihre letzten sein.
Jene Szene füllte Nacht für Nacht seine Träume. Seine Träume waren es, die ihm seine geliebte Frau in ihren letzten Augenblicken zeigten. Sie war jung gestorben. Viel zu jung.
Einen ihrer Wünsche hatte er ihr erfüllt, der zweite war ihr verwehrt geblieben – und würde es auch immer bleiben.
Seine übliche Mittagspause bei einer Tasse Kaffee und der Tageszeitung hatte ihm eine Menge weiblicher Blicke beschert. Er war allein. Er war breitschultrig und hatte volles Haar, in das man seine Finger graben wollte. Er war attraktiv. Ehe er sich versah, war er nicht mehr allein.
In seiner Brieftasche hatte Lauras Bild gelegen. Nachdem er ihr den einen ihrer beiden Wünsche erfüllt hatte, war er gezwungen gewesen, ihr Bild gegen ein neues einzutauschen. Obgleich das völlig irrelevant war; seine Träume zeigten ihm seine Frau. Nacht für Nacht. Er brauchte kein Bild von ihr mit sich herumzutragen. Sie war auch so immer bei ihm. Das wusste er. Das spürte er. Doch er erlebte es nicht. In jedem Gespräch umschifften seine Mitmenschen das Thema Laura, als wäre diese Frau nie ein Teil seines Lebens gewesen. Als wäre sie kein Teil von ihm. Dabei hatte er niemanden darum gebeten, Laura vor ihm nicht zu erwähnen. Die Konfrontation war vielleicht sogar das einzige, was den Abstand zwischen ihm und seinem Glück verringern konnte. Aber das sollte nicht sein.
Das neue Bild zeigte seine derzeitige Partnerin. Er liebte sich nicht. Ab und an begehrte er sie. Aber er liebte sie nicht. Er würde sie nie lieben. Er würde nie jemanden so lieben, wie er Laura geliebt hatte. Er würde ihr ihren zweiten Wunsch nie erfüllen können, egal, wie sehr er sie liebte.
Viele Menschen müssen durch den Tod Verluste erleiden. Manche hoffen den geliebten Menschen, der nicht mehr unter den Lebenden weilt, einmal wiederzutreffen, im Himmel oder in einem anderen Leben. Andere sind froh, ihn von seinen Leiden, die er unter Umständen ertragen hatte, erlöst zu wissen.
„Bei Gott ist er geborgen, ihm kann nichts mehr passieren.“
“Hatte er womöglich einen letzten Wunsch, den man ihm erfüllen sollte?” Die Begegnung mit dem Tod ist auch eine Begegnung mit Fragen, die sich viele von uns vorher nie gestellt haben.
Einige Menschen verfallen jedoch aus Kummer um ihre Einbuße in tiefe Depressionen und wissen nichts mehr mit sich anzufangen. Sie sehen keine Möglichkeit, mit der Leere in ihrem Inneren umzugehen.
Diese Fallbeispiele verdeutlichen, dass es viele Varianten gibt, mit dem Tod zu verkehren. Eine weitere weit verbreitete Umgehensweise beispielsweise ist die Tabuisierung. Einerseits können oder wollen manche nicht über ihren Verlust sprechen. Sie verdrängen ihre Trauer.
Hinsichtlich der Menschen um sie herum, die keinen Todesfall zu beklagen haben, ist andererseits oft auch das Phänomen zu beobachten, dass sie es sind, die versuchen, den Verstorbenen mit keinem Wort zu erwähnen, die es sich nicht zumuten der Trauer des anderen ausgesetzt zu werden oder ihn an sein Leid zu erinnern. Dabei würde es vielen Hinterbliebenen womöglich sogar helfen, mit der gegenwärtigen Situation fertigzuwerden. Warum ist das Thema Tod in unserer Gesellschaft ein Tabu? Wieso fällt es Menschen schwer, über den Tod zu sprechen?
Schließlich findet er sich auch in zahlreichen anderen Situationen. Er ist fester Bestandteil unseres alltäglichen Lebens. In den Nachrichten hören wir jeden Tag Todesmeldungen: Katastrophen, Unglücke, Krieg. Unsere Ururgroßeltern sind vermutlich alle bereits verstorben. Die Haare auf jedermanns Kopf? Ebenfalls tote Materie. Unser Körper strebt mit dem Tag seiner Geburt seinem Ende, dem Tod, entgegen. Diesen Prozess können wir hinauszögern, ihn verlangsamen, verhindern können wir ihn nicht. Selbst unser Schnitzel auf dem Teller ist nicht mehr als lebendig zu bezeichnen. Der Tod ist Normalität, aber doch so fremd, wenn er uns selbst betrifft.
Bestimmt bist auch du schon einmal mit dem Tod konfrontiert worden. Bewusst oder unbewusst.
Wir halten es für wichtig, dieses Thema ins Gespräch zu bringen. Deshalb wollen wir dir in den nächsten Wochen Menschen vorstellen, die beruflich mit dem Tod zu tun haben oder selbst Verluste erleiden mussten. Außerdem werden dir weitere Fassetten dieser komplexen und zugleich elementaren Thematik vorgestellt. Wir hoffen damit den nötigen Anreiz zu geben, dich mit dir selbst, deinem Leben und dem Danach zu beschäftigen.