Unter der Grassnarbe
„Was gesagt werden muss“, aber wohl nicht gesagt werden darf
„Warum schweige ich […]“ – So beginnt Günter Grass‘ Gedicht „Was gesagt werden muss“, ein lyrisches Werk, das in den letzten Tagen für viel Furore sorgte. Offensichtlich hätte Grass auch weiterhin schweigen sollen, doch dieser unglaubliche Drang in ihm forderte ihn auf, seine Meinung als Literaturnobelpreisträger zur Außenpolitik Israels im Atomkonflikt zwischen Israel und Iran zu äußern.
In dem Gedicht kritisiert Grass die Einstellung der israelischen Regierung bezüglich einer möglichen Gefahr durch eine Atombombe im Iran – die zweifelsohne besteht – und führt die Furcht der Israelis zugleich ad absurdum.
Nicht die Iraner seien es, die den Weltfrieden bedrohen, vielmehr gelte: „Die Atommacht Israel gefährdet den ohnehin brüchigen Weltfrieden“, weil dadurch das Gleichgewicht zwischen den Mächten in dieser „vom Wahn okkupierten Region“ aus den Fugen gerate. Grass appelliert an eine übergeordnete Instanz, die, von beiden Regierungen akzeptiert, das Atomprogramm der verfeindeten Staaten überwachen solle. „Nur so ist allen, den Israelis und Palästinensern, mehr noch, allen Menschen, […] und letztlich auch uns zu helfen.”
Was gesagt werden muss
Was gesagt werden muss
von Günter Grass
Warum schweige ich, verschweige zu lange, was offensichtlich ist und in Planspielen geübt wurde, an deren Ende als Überlebende wir allenfalls Fußnoten sind.
Es ist das behauptete Recht auf den Erstschlag, der das von einem Maulhelden unterjochte und zum organisierten Jubel gelenkte iranische Volk auslöschen könnte, weil in dessen Machtbereich der Bau einer Atombombe vermutet wird.
Doch warum untersage ich mir, jenes andere Land beim Namen zu nennen, in dem seit Jahren – wenn auch geheimgehalten – ein wachsend nukleares Potential verfügbar aber außer Kontrolle, weil keiner Prüfung zugänglich ist?
Das allgemeine Verschweigen dieses Tatbestandes, dem sich mein Schweigen untergeordnet hat, empfinde ich als belastende Lüge und Zwang, der Strafe in Aussicht stellt, sobald er mißachtet wird; das Verdikt “Antisemitismus” ist geläufig.
Jetzt aber, weil aus meinem Land, das von ureigenen Verbrechen, die ohne Vergleich sind, Mal um Mal eingeholt und zur Rede gestellt wird, wiederum und rein geschäftsmäßig, wenn auch mit flinker Lippe als Wiedergutmachung deklariert, ein weiteres U-Boot nach Israel geliefert werden soll, dessen Spezialität darin besteht, allesvernichtende Sprengköpfe dorthin lenken zu können, wo die Existenz einer einzigen Atombombe unbewiesen ist, doch als Befürchtung von Beweiskraft sein will, sage ich, was gesagt werden muß.
Warum aber schwieg ich bislang? Weil ich meinte, meine Herkunft, die von nie zu tilgendem Makel behaftet ist, verbiete, diese Tatsache als ausgesprochene Wahrheit dem Land Israel, dem ich verbunden bin und bleiben will, zuzumuten.
Warum sage ich jetzt erst, gealtert und mit letzter Tinte: Die Atommacht Israel gefährdet den ohnehin brüchigen Weltfrieden? Weil gesagt werden muß, was schon morgen zu spät sein könnte; auch weil wir – als Deutsche belastet genug – Zulieferer eines Verbrechens werden könnten, das voraussehbar ist, weshalb unsere Mitschuld durch keine der üblichen Ausreden zu tilgen wäre.
Und zugegeben: ich schweige nicht mehr, weil ich der Heuchelei des Westens überdrüssig bin; zudem ist zu hoffen, es mögen sich viele vom Schweigen befreien, den Verursacher der erkennbaren Gefahr zum Verzicht auf Gewalt auffordern und gleichfalls darauf bestehen, daß eine unbehinderte und permanente Kontrolle des israelischen atomaren Potentials und der iranischen Atomanlagen durch eine internationale Instanz von den Regierungen beider Länder zugelassen wird.
Nur so ist allen, den Israelis und Palästinensern, mehr noch, allen Menschen, die in dieser vom Wahn okkupierten Region dicht bei dicht verfeindet leben und letztlich auch uns zu helfen.
Günter Grass betont zudem besonders, dass er „der Heuchelei des Westens überdrüssig“ sei. Heuchelei – welch ein großes Wort. Gemeint ist für den Dichter die seiner meiner Meinung nach übertriebene Rücksichtnahme des Westens, besonders Deutschlands aufgrund des Holocausts. Jede Kritik an Israel sei daher antisemitisch. Losgelöst von jenem ungeschriebenen Gesetz sowie „gealtert und mit letzter Tinte“ stilisiert Grass seine Meinung zu der letzten maßgeblichen Erkenntnis seines Lebens, mit der er die weltpolitische Bühne verlassen will.
Lyrisch gesehen ist Grass‘ Gedicht nicht gerade eine Meisterleistung. Kein erkennbares Versmaß, kaum Metaphorik und auch sonst schlecht als Gedicht zu erkennen. Hätte der Literaturnobelpreisträger nicht klargemacht, es handele sich um ein Gedicht, hätte es auch ein schwungvoller Kommentar, ein künstlerischer Leserbrief sein können. Marcel Reich-Ranicki bezeichnet „Was gesagt werden muss“ als „literarisch wertlos“, mehr noch; es sei ekelhaft und „stelle die Welt auf den Kopf“. Hier ist wieder zu erkennen: Global-gesellschaftliche Konventionen werden ignoriert. Das scheint den Menschen zu beängstigen. Andererseits hat die einzigartige Form des Gedichts zudem zwei wesentliche Vorteile: Erstens ist der Text durch die recht einfache Sprache einem großen Publikum zugänglich und damit erreicht die Intention Grass‘ viele, zweitens sprengt er durch die Unkonventionalität seines Gedichts auch formal alte, morsche Strukturen auf. Er ignoriert ungeschriebene Gesetze – sowohl in der Form des Gedichts und damit der Lyrik als solche als auch politische Erwartungen.
Die Reaktion auf das Gedicht von Grass waren sehr unterschiedlich – allerdings alle kritisch. Bestärkt dies Grass‘ Hypothese von dem „moralischen Kritikverbot“ an Israel?
Israel erklärte Grass zur „Persona non grata“, zur unerwünschten Person und erteilte somit ein Einreiseverbot für den Nobelpreisträger, wo er dem Land doch so verbunden sei. Grass wiederum kritisierte diesen Schritt zu tiefst und bekräftige seine Position im Gedicht mit den Worten: „Es gibt nur wenige Länder, die Uno-Resolutionen so missachten wie Israel. Es ist oft genug von der Uno darauf hingewiesen worden, dass diese Siedlungspolitik beendet werden muss. Sie geht weiter […] ‚Ja keine Kritik an Israel’ ist das schlimmste, was man Israel antuen kann. […] Israel ist nicht nur eine Atommacht, sondern hat sich auch zur Besatzungsmacht entwickelt.“ [Quelle: Tagesthemen, April 2012]
Die Fronten in diesem internationalen Kampf verhärten sich. Deutsche Politiker bezeichnen das Einreiseverbot als überzogen, was es auch ist. Besonders hitzig ist die Debatte wahrscheinlich auch, weil der heutige Nobelpreisträger früheres Mitglied der Waffen-SS war und somit im direkten Zusammenhang zum Holocaust steht. Mit 17 Jahren diente er als Ladeschütze, habe selbst nie geschossen und somit keinen Menschen getötet. Dennoch ist dadurch eine moralische Bedenklichkeit entstanden, die die Diskussion vermutlich anheizt.
Das Recht auf Meinungsfreiheit wird in diesem Streit einem ungeschriebenen Gesetz untergeordnet, einem, das nicht die heutige Generation bewirkte, sondern unsere Urgroßväter. Grass hat Recht, wenn er sagt, er hoffe, „es mögen sich viele vom Schweigen befreien […]“ und den Mut entwickeln, Kritik auch an Israel, wenn gerechtfertigt, zu äußern. Es ist an der Zeit den Holocaust zu akzeptieren – wohl wissend um die Schrecklichkeit, die Unmenschlichkeit und die Verneinung dem gegenüber – und eine annähernd unbefangene Beziehung zwischen Israel und Deutschland zu ermöglichen. Konflikte wie dieser tragen dazu wenig bei.
Eine spannende These dazu stellt der Autor Henryk Broder auf, der meint: „Die sogenannte Erinnerungskultur besteht größtenteils aus Wohlfühlritualen für die Nachkommen der Täter, die sich selbst darin bestätigen, wie vorbildlich sie mit der Geschichte umgehen.“ Soll heißen, der „Erinnerungswahn“ [Broder] diene weniger den Opfern oder deren Nachkommen im Umgang mit dem Holocaust als vielmehr den Deutschen, die sich selbst zu beschwichtigen versuchen. Broder fordert, die Vergangenheit Israels solle nicht im Vordergrund stehen, sondern die Gegenwart und Zukunft des Landes.
Denn wirkliche Wertschätzung gegenüber Israel ergibt sich durch Gleichberechtigung, die auch Kritik Deutschlands an den Israelis enthält – und die Gleichberechtigung kann nicht entstehen, wenn sich der eine immer wegducken muss oder der andere Schutz in Mitte von Stärkeren sucht.