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Habuimus Papam

Es ist Montagvormittag, zwei Tage vor Aschermittwoch, kurz vor zwölf Uhr. Herr Scheele kommt aus dem Lehrerzimmer und stellt sich vor die Klasse. Er hat eine Schockmitteilung im Gepäck. „Leute, hört zu. Ein Jahrhundertereignis ist geschehen:“ Einmal tief Luft holen, fortfahren. „ Das Oberhaupt der katholischen Kirche hat seinen Rücktritt angekündet. Der Papst hat abgedankt.“ Auf der ganzen Welt sind die Menschen erschüttert, entsetzt, überrascht – so wie wir. Doch einige Wenige fühlen sich in ihrer Annahme bestätigt…

Der letzte Papst trat 1415 zurück, nachdem er bereits sechs Jahre zuvor abgesetzt worden war.

Dieses Bild ging um die Welt: Der Papst verkündet seinen Rücktritt. (Foto: Reuters)

Papst Benedikt der XVI. ging im Gegensatz zu Gregor XII. freiwillig. Dem 85-Jährigen setze sein Alter zu. Er gehe nach eigener Aussage zum Wohle der Kirche. So kommen endlich die für den vor 1963 referierenden Theologen Ratzinger typischen zeitgenössisch modernen Ansichten zum Ausdruck. Bundeskanzlerin Angela Merkel begegnet seiner Entscheidung mit großem Respekt. Im Netz verbreitet sich die Nachricht rasant – und spöttisch: „Aus Bibel abgeschrieben! Ratzinger verliert Papsttitel!“ Tatsächlich hat Joseph Ratzinger nach seinem Philosophie- und Theologiestudium promoviert und habilitiert, stieg vom Dozenten zum Professor auf und wurde Vizepräsident der Universität Regensburg. Scheinbar leichtfüßig tänzelte der Priester seine steile Karriereleiter hinauf. Zuerst wurde er zum Erzbischof von München und Freising, dann zum Kardinal berufen, ehe Papst Johannes Paul II. den hochgeschätzten Theologen zum Präfekten der Glaubenskongregation machte, zum Kopf des Dechiffrierungs- und Verteidigungsbataillons  der katholischen Lehre.

Im Aoril 2005 war ganz Deutschland Papst.

„Habemus papam!“ Wir haben einen Papst! Mit diesem traditionellen Ausspruch kündigten die Kardinäle am 20. April 2005 ihren Pontifex auf dem Hauptbalkon des Petersdoms an. Doch dieser hatte nach eigener Aussage dafür gebetet, dass ein anderer gewählt werde. „Ich habe mit tiefster Überzeugung zum Herrn gesagt: Tu mir dies nicht an!“ Joseph Ratzinger ist kein Machtmensch und seine theologische Überzeugung war von einer Wende gebrandmarkt. Doch das Konklave hatte im vierten Wahlgang mit einer Zweidrittelmehrheit für den unwilligen Kardinal Ratzinger gestimmt – und  zack „waren wir Papst“, wie die BILD-Zeitung damals noch frohlockend verkündete, das erste Mal seit 482 Jahren. Die Reformation hatte viele Deutsche der römisch katholischen Doktrin den Rücken zukehren lassen. Aber nun: Auf zum „urbi et orbi“, dem Segen des neuen Papstes „der Stadt und dem Erdkreis“. Ein Papst-Rausch zog durch Deutschland. Er hielt nicht lange an.

Wozu überhaupt das ganze Theater? Was bringt uns der Papst?  Der Regent der katholischen Kirche ist der Stellvertreter Jesu auf Erden. Er soll dessen Wort verkünden und seine Lehre interpretieren. Das hat Ratzinger zweifelsohne getan. Doch ein Papst hat auch eine Glaubensgemeinschaft von 1,2 Milliarden Katholiken zu regieren. Befriedigend, denn sie sind jederzeit dazu befugt, das katholische Kartell zu verlassen.

Das Forum Deutscher Katholiken schrieb anlässlich seines Amtsrücktritts, Ratzinger habe als Priester, Theologe, Bischof und Papst die Menschen auf das Wesentliche am Christsein mit starken, aufrichtenden Worten hingewiesen, nämlich, „dass Christus in den Herzen der Menschen wohnt“. Dem müsse sich alles andere unterordnen. „Was kapiert die Welt davon, die alles an politischen und wirtschaftlichen Erfolgen oder Misserfolgen misst und in Machtfragen denkt?“, heißt es weiter, „Wie wird er uns auf dem Stuhl Petri fehlen!“

Der Papst hat die Aufgabe, die oberste Priorität Jesu zu seiner eigenen zu machen. Die Gläubigen sollen sich geborgen fühlen, aus ihrem Glauben und der kirchlichen Gemeinschaft Kraft und Hoffnung schöpfen. Nächstenliebe ist das einzige, was zählt.

Tatsache ist, dass die Zahl der gläubigen Kirchengänger rapide abgenommen hat, die Skandale, die Ratzingers Pontifikat begleiteten, sich dafür umso mehr anhäuften. Die Medien vermittelten ein eindeutiges Bild. Viele Menschen bekamen den Eindruck, Benedikts Handeln würde keineswegs von Nächstenliebe zeugen.

Joseph Ratzinger als Kardinal 1988.

Der „Panzerkardinal“ oder auch „Inquisitor“, wie ihn Kritiker bezeichnen, lehnte die Weihung von Frauen zu katholischen Priesterinnen ab, sprach sich gegen Abtreibung, Sterbehilfe und Homo-Ehen aus und bezeichnete Rockmusik als Ausdruck „niederer“ menschlicher Gefühle. Der Gebrauch von Kondomen könne das Problem von AIDS in Afrika noch verstärken, auch das Zölibat sei unanfechtbar.

Seit dem für die Erneuerung der Kirche einstehenden Zweiten Vatikanischen Konzils im Jahre 1962, bei dem der Papst noch als einer der modernsten Referenten auftrat, sei die Kirche nicht mit, sondern gegen den Strom der Zeit geschwommen, beklagen enttäuschte Reformer.

Eines von Ratzingers größten Anliegen war die Auseinandersetzung mit anderen Glaubensrichtungen. Trotzdem brachte er die muslimische Welt gegen sich auf, als er auf einer Vorlesung in Regensburg 2006 einen byzantinischen Kaiser zitierte, der Islam habe nur Schlechtes gebracht und sei mit dem Schwert verbreitet worden. Nachdem Benedikt drei Jahre später auch noch gegen die Juden feuerte, indem er die Exkommunikation von vier Bischöfen der Pius-Bruderschaft aufhob und damit auch die des Holocaust-Leugners Richard Williamson, brachte er auch die Juden gegen sich auf. Vergebung war sein Motiv. Vergebung für das Leugnen eines Völkermords an 6 Millionen Menschen. Der katholisch-jüdische Dialog wurde auch durch die Wiedereinführung einer Karfreitagsfürbitte gestört, in der für die Erleuchtung der Juden gebetet wird.

Ebenso begnadigte der 85-Jährige seinen Kammerdiener Paolo Gabriele, als dieser, nachdem er als Spitzel enttarnt wurde, der eine Vielzahl an vertraulichen Dokumenten aus den päpstlichen Gemächern entwendet und an Journalisten weitergeleitet hatte, zu einer Haftstrafe von 18 Monaten verurteilt wurde. Die „Vatileaks-Affäre“ setzte dem Menschen Joseph Ratzinger ebenso zu wie seinem Amt. Doch der Papst handelte gewissenhaft, wie sein Herr es getan hätte. Er vergab.

Gott sei Dank begnadigte er die zahlreichen Vergehen der katholischen Priester nicht. Das entsetzlich große Ausmaß an Missbrauchsskandalen, die ans Licht kamen, zog eine immens hohe Zahl an Kirchenaustritten mit sich. Der Papst zeigte sich über die Vorfälle erschüttert und versprach eine Aufarbeitung.

Bei seinem Deutschlandbesuch 2011 mahnte er vor zu viel Reformeifer, forderte stattdessen mehr Papsttreue und der Folgeleistung einer Weltkirche. Genug – der Regent der katholischen Kirche wird als konservativ, überholt, beinahe diktatorisch wahrgenommen. Im SPIEGEL-Artikel zu seinem Amtsaustritt liest man: „Benedikt, der Zorn Gottes.“

Sein Vorgänger war im Gegensatz zu ihm sehr reformorientiert gewesen. Rom hatte nach Johannes-Paul II. einen Papst gebraucht, der wieder Ruhe in die Kirche brachte.

Der junge Theologe Ratzinger während des Zweiten Vatikanischen Konzils (hier im Gespräch mit Kardinal König). Foto: Bistum Mainz

Tatsächlich hat sich Joseph Ratzinger als Bewahrer erwiesen, nicht als Reformer. Vor 50 Jahren hätte das niemand von dem angesehen Theologen behauptet. Zwar sprach er auch da schon von einer Weltkirche, kritisierte ebenso den Relativismus, trat jedoch wesentlich weniger pessimistisch vor seine Leser und Zuhörer. Man dürfe sich nicht täuschen: Relativismus müsse nicht in allen Stücken etwas Schlechtes sein. Wenn er dazu führe, die Relativität aller menschlichen Kulturgestaltungen zu erkennen und so zu einer gegenseitigen Bescheidung führe, könne er einer neuen Verständigung zwischen den Menschen dienen und Grenzen öffnen helfen, die bisher verschlossen schienen – so steht es in einer Schrift Ratzingers von April 1962. Auch würden nicht für jedes Land alle Gesetze  gleichermaßen gelten können. Der Theologe beanstandete, dass viele Menschen die Kirche als ideologisch und totalitär wahrnähmen. „Sollten wir nicht […] unsere ganz einschlägige Praxis überprüfen?“ Die Welt erwarte nicht weitere Verfeinerungen des Systems, sondern die Antwort des Glaubens in der Stunde des Unglaubens. Papst Paul VI. war begeistert, doch Ratzinger erhielt auch so einiges „non placet“ von Kardinal Frings, seinem Vorgesetzten, als dessen Berater er zur Verfügung stand. Immerhin bekehrte er im Zweiten Vatikanischen Konzil die anwesenden Bischöfe in ihren Ansichten. Sie seien im Nachhinein nicht mehr dieselben gewesen, so heißt es in dem Essay „Woher der Bruch?“ von Erich Garhammer. Joseph Ratzinger forderte eine neue Kommunikationskultur und eine grundlegende Veränderung der Theologie, eine Abwendung von der Negation und dem Abwehrkampf gegen den Modernismus. Ratzinger war ein bewegender Mensch. Woher also kam der Bruch? Warum erwies er sich während seines Pontifikats nicht mehr als Reformer, sondern als Inquisitor, verbissen klammernd an die katholische Lehre?

Familie Ratzinger 1949: Schwester Maria, Bruder Georg, Mutter Maria, Joseph Ratzinger und Vater Joseph (v.l.n.r.)

Es gibt viele Theorien darüber, warum er sich später immer kritischer zum  Konzil äußerte, die tatsächliche Bekehrung zum Katholizismus erfuhr unser späterer Papst jedoch durch den Tod seiner Mutter im Dezember 1963. Dieses Ereignis brandmarkte ihn. Ein Wort von Friedrich Heiler habe ihn besonders getroffen: Millionen Menschen würden die römische Kirche als eine geistige Mutter betrachten, in deren Schoß sie sich im Leben und Sterben geborgen wüssten. Ende im Gelände der Reformorientiertheit. Es dürfe keinen Bruch zwischen alter und neuer Kirche geben. Die einfachen Gläubigen stünden den Theologen gegenüber, die für eine neue Kirche votieren. Die geliebte Mama Ratzinger war als einfache Gläubige der alten, vorkonziliaren Kirche gestorben.

Irgendwann wurde ihr Sohn Papst. Im Gedenken an sie beließ er alles, wie sie es kannte und sah dabei zu, wie immer mehr Christen sich von ihrer Glaubensgemeinschaft lösten – die er leitete.

Doch er hinterließ nicht nur Asche. Den Blütenstaub bildet ein einziges großes Bildungsprogramm, dessen Ertrag jedoch noch aussteht. Ein prominenter deutscher Kardinal sagte: „Ein Papst kann Theologe sein oder Seelsorger oder Feldherr.“, er ließe dabei spüren, dass der Bedarf an Philsophenpäpsten fürs Erste gedeckt sei, berichtet der SPIEGEL. „Um die Weltkirche zu leiten, bedarf es einen Feldherrn.“

Benedikt wollte eine Weltkirche leiten, er wusste schon zu seinem Amtseintritt, was dieser Kardinal heute zu Sprache brachte. Doch Joseph Ratzinger ist eigentlich gar kein Feldherr, deshalb war ihm das Papstamt von Anfang an nicht geheuer.

Seine Botschaften jedoch sind angekommen, selbst wenn sie bisher zu keiner Massenbekehrung führten.  24 Auslandsreisen hat sein Pontifikat zu verzeichnen. Der Papst wetterte gegen eine „Diktatur des Relativismus“. Die Anbetung von Geld, Macht, Technik und Ökonomie weise längst Züge einer Pseudoreligion auf. Liebe, Hoffnung und Solidarität, Frieden und Respekt vor der Schöpfung sollten der Maßstab aller Dinge sein. Die Bedürfnisse des eigenen „Ich“ sollten viel eher in den Hintergrund treten. Das sagt ein Papst, dessen Körper laut traditioneller Auffassung unmittelbar mit seinem Amt zusammenhänge wie beim absoluten Monarchen. Ein Papst, der im Burnout-Zeitalter dazu aufruft, die persönlichen Bedürfnisse zurückzuschrauben, tritt zurück, weil sein Körper die Aufgaben seines Amtes nicht mehr mitträgt. Das ist verantwortungsvoll, das ist solidarisch. Ein Nachfolger könne seinen Job gewissenhafter erledigen, deshalb solle man ihm den Vortritt gewähren. Niemand müsse seinen krankheitsbedingten Leidensweg miterleben wie den seines Vorgängers. Der Anblick eines vom Zerfall gezeichneten Papstes  im Rollstuhl solle der Menschheit erspart bleiben. To make the difference, zieht sich der Beter zum Gebet zurück. Es wird sich zeigen, inwiefern Benedikt noch von sich hören lässt. Es wird sich auch zeigen, inwiefern er Einfluss auf das kommende Konklave nehmen wird. Fakt ist, dass er 67 von 117 wahlberechtigten Kardinälen selbst ernannt hat. Er freue sich über einen Pontifex aus der Dritten Welt, so heißt es.

Sein Amtsrücktritt, so nebensächlich der Papst ihn in die Ratssitzung der Kardinäle einband, war ein großer Fortschritt. Man könnte diese Entscheidung als einen Akt der Rebellion betrachten, als ein Vergehen des jungen Joseph Ratzinger von 1962. Benedikt verlässt den Thron, auf den Gottes Wille ihn berufen hat, aus freien Stücken. Vielleicht hätte Papst Johannes-Paul II. ihm einen Vorwurf alla „vom Kreuz steigt man nicht herunter“ gemacht. Vielleicht hätte der brillante Theologe Ratzinger seinen Amtsrücktritt mit dem Wesen seines Herren begründet: Schwächen zuzugeben ist stark, Schwächen zu haben, menschlich. Selbst Jesus war ein Mensch.

Ein Mensch ist nicht allmächtig. Wenn das Amt für einen zu groß ist, sollte er dann nicht Macht abtreten an die Bischöfe und Weltregionen? Das forderte Ratzinger 1962 noch, später nicht mehr. Wieso überhaupt müssen Ehepartner bis zum Tod aneinander festhalten, wenn ein Papst sein Amt einfach so ablegen kann? Kann man es nun nicht mit der Strenge in anderen religiösen Fragen etwas lockerer nehmen? Muss nun jeder zukünftige Papst bei Altersschwäche oder fehlerhafter Amtsführung mit Rücktrittsforderungen rechnen wie ein Politiker, fragen sich SPIEGEL-Redakteure. Läuft Papst Benedikt davon vor der Kirchenkrise oder ist sein Amtsrücktritt das Erwachen des Joseph Ratzinger, der 1962 für ein Umdenken in der katholischen Doktrin plädierte?

Vor sieben Jahren zitierte Papst Benedikt eine weise Erkenntnis, zu der Kirchenvater Augustinus einst gelangt war: „Der Mensch wird immer ein tiefes und unergründliches Rätsel bleiben.“

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