Runter mit den Klamotten
Jan Brandt auf Heimatbesuch in Ihrhove: Das vorletzte Mal liest er aus seinem Debütroman „Gegen die Welt“ und lässt dabei nicht nur die Hüllen seines Buches fallen…
Freitagabend, 19.30 Uhr, Rathaussaal Jericho. Ach Quatsch, Ihrhove natürlich, nicht Jericho!
Yannik und ich haben in der dritten Reihe Platz genommen. Wir wollen einer Autorenlesung lauschen. „Verwunderlich wie kulturbewusst die Ostfriesen sind“, meint Yannik, als sich der Raum immer weiter füllt. „Einmal im Jahr ist auch mal Kultur angesagt!“ grummelt ein älterer Herr vor uns. Ich selbst weiß, warum dieses eine Mal gerade heute auf seinem Programm steht: Vor zwei Jahren ist das Debütwerk „Gegen die Welt“ von Jan Brandt in die Buchläden gekommen. 2011 war es für den Deutschen Buchpreis nominiert und ein Jahr später wurde es mit dem Nicolas-Born-Debütpreis prämiert. „Gegen die Welt“ ist ein Heimat – und Antiheimatroman, der von den erstaunlichen (erstaunlich vertrauten) Geschehnissen in einem fiktiven Dorf namens Jericho erzählt. Jericho liegt geografisch gesehen an der Stelle, an der sich Ihhove befindet, der Heimatort Brandts, der Ort dessen Rathausstühle wir in diesem Augenblick besetzen.
SPIEGEL ONLINE schrieb dazu: „Eine zu Herzen gehende Geschichte (…) Ein grandioser Rundumblick auf eine kleine Welt, in der sich mehr von der großen Welt da draußen widerspiegelt als ihre Bewohner manchmal erkennen können.”
Über das Buch und den Autor
Vor einem Jahr hat Jan Brandt an unserer Schule aus seinem Roman gelesen. Wir hörten Heavy Metall Musik und wurden vor der Invasion der Plutonier gewarnt, die uns Menschen befallen, wesenlos machen und sich unseren Körper zu Nutzen machen.
Die heutige Lesung verspricht, etwas anderes zu offenbaren: Die Wahrheit, die hinter der Fiktion steckt.
Um nichts zu verpassen, mache ich mich vorsichtshalber auf die Suche. Intuitiv steuere ich eine Seitentür an. Die Aufschrift erkenne ich erst jetzt: „Zu den Toiletten“. Ich trete ein – und Jan Brandt steht vor mir. „Hallo Alina! Wie geht es dir?“ Wir plaudern angeregt, bis Jans Auftritt anmoderiert wird. Er rät mir, sich immer Notizen zu machen, um Erlebtes für spätere Verarbeitung aufzubewahren. Die Lesung beginnt. Wir lauschen seinen „Notizen“, 13 Jahre alten Geschichten, die zwar aufgeschrieben, aber nicht ins Buch eingebunden wurden. Heute darf das Publikum hinter die Kulissen schauen. Wie formte Brandt seine Figuren?
Immer wieder geht ein herzhaftes Lachen durch eine Zuschauerreihe. Die Darstellungen sind Karikaturen, ohne dass sie karikiert werden mussten. Das ist der Vorteil, den der Autor aus seiner Jugend in Ihrhove bezieht.
Friseure und Drogisten seien es, die die Macht im Dorf hätten. Sie seien die gemeindeinternen Medien. Ihr Haupttätigkeitsfeld umfasse die Aneignung von Informationen und deren Verbreitung. Der Drogist sei zugleich der Beichtvater, der den reformierten Ostfriesen fehle: Kaufe jemand ein Kondom, beichte er ohne Worte schon im Voraus, dass er Sex haben wolle. Solche Dinge „verarbeitet“ Brandt in seinem Roman.
Die „Fahrrad-Psychologie“ des Drogisten Kuper aus Jericho, mit der er seine Kunden zu manipulieren versucht, kommt auch nicht von ungefähr. Jan Brandt, der gleichnamige Urgroßvater des Autors, betrieb in Ihrhove einen Mischwarenladen. Uns Zuschauern werden vier Bilder von dem Geschäft gezeigt, die im Zeitraum von 1900 bis 2009 aufgenommen wurden. Es gilt, zu erkennen, welche Gemeinsamkeit sie aufweisen? Brandt klärt auf. Immer wenn das Geschäft offen gewesen sei, hätten die Fahrräder draußen gestanden. Dieses Faktum hätte übrigens der „Tatsache“ gedient, dass potentielle Kunden dazu ermutigt werden würden, das Geschäft zu betreten, wenn sie wüssten, es kaufe schon jemand darin ein. So seien stets die hauseigenen Fahrräder vor das Geschäft gestellt worden. Psychologie eben.
Später bezieht Jan Brandt sich auf den hervorgeholten Playboy, als er eine seiner Geschichten vorträgt. „Eigentlich wollte ich heute Abend ja jugendfrei bleiben…“, bedenkt der ehemalige „Verbotene-Liebe“-Statist schuldbewusst. Am Anfang der Lesung trug er noch Pullover und spezialbeschichtete Pilotenbrille, eine richtige, zum Schutz vor den Plutoniern. Dann entledigte er sich der Brille und seines Pullovers und gewährte dem Publikum stattdessen den Blick auf ein T-Shirt mit dem Aufdruck „Jericho, Ostfriesland“.
„Was mich dazu bewegt hat zu schreiben, war die Erfahrung, nicht mehr hier zu leben.“ In Berlin, wo er zurzeit lebe, könne man keinen Schwarzen Tee trinken. Er selbst leide unter Entzugserscheinungen.
Im Moment schreibt Jan Brandt an einem neuen Roman. Jericho wird ihm wieder als Set dienen. Diesmal steht allerdings ein Auswandererroman auf dem Plan. Er handelt von Ostfriesen die in die USA ziehen, um dort ein neues Leben zu beginnen. Sicher denken sie daran, genug Tee mitzunehmen.
Ihr Kreator scheint sehr auf Dramatik zu stehen. Bei seiner Playboy-Story zieht er auf dem Podium das weiße Jericho-Shirt aus – Umbruch! (Er hat nun dank seines Zwiebellooks ein grünes an.)
Für die Charaktere in seinem Buch lässt Jan Brandt sich von den Bewohner Ihrhoves inspirieren, setzt sich anschließend zuerst in ihre Kirche, dann in ihr Rathaus und liest ihnen die Leviten.
In „Gegen die Welt“ hatte er bereits den Untergang einer Drogeriekette prophezeit und siehe da – ereilte Schlecker die pleite.
„Dr.“ Christian Wulff hätte sich Daniel Kuper, einer der Hauptprotagonisten, nach wie vor nicht als Bundespräsidenten vorstellen können und zack – war er weg vom Fenster.
Die Fernsehserie „Dallas“ spielt mitunter eine nicht unerhebliche Rolle in dem Roman. Und jetzt? Jetzt ist auch sie in unser Leben zurückgekehrt.
Ist es da nicht berechtigt, sich Sorgen um die Menschheit zu machen, die in unmittelbarer Zukunft von klitzekleinen Aliens ihrer Menschhaftigkeit beraubt werden soll?