HIV – das vergessene Virus
AIDS galt in den 80er und 90er Jahren als Geißel der Menschheit. Die Verunsicherung über die Ansteckungsrisiken war groß und die Diagnose „HIV positiv“ war gleichbedeutend mit einem Todesurteil. Doch HIV und AIDS sind inzwischen aus den Schlagzeilen verschwunden, die Gefahr scheint gebannt. Stimmt das? Wie lebt es sich heutzutage als HIV Positiver? Wir haben die AIDS Hilfe in Oldenburg befragen dürfen.
laurentinews.de: Seit wie vielen Jahren arbeiten Sie bei der AIDS Hilfe und was hat Sie dazu bewogen?
Ralf Monsees (AIDS-Hilfe Oldenburg): Ich mache seit 15 Jahren die Schulprävention bei der AIDS Hilfe. Ich habe zuvor im Gesundheitsamt ähnliche Arbeit gemacht.
Was macht Ihnen bei Ihrer Arbeit besonders große Freude?
Die Vielfältigkeit meiner Arbeit ist besonders interessant. Ich besuche alle Schulformen und arbeite auch in der Erwachsenenbildung. Spannend ist, dass Schüler in einem gewissen Alter eigentlich fast alle gleich sind. Mit dem Thema Sexualität stößt man natürlich bei allen Jugendlichen auf großes Interesse, es gibt aber auch viel Unwissenheit. Es ist aber auch durchaus schwierig, mit Diskriminierung und sprachlich nicht immer angemessenen Ausdrucksformen umzugehen. Es ist immer wieder eine tolle Herausforderung, richtig darauf einzugehen.
Bei vielen Menschen herrscht immer noch ein veraltetes Bild, bei dem HIV=AIDS ist. Können Sie uns kurz den Unterschied erklären?
Auf der einen Seite haben wir die HIV-Infektion, d.h. der Virus ist im Körper und macht weder Symptome noch krank. Aber das Virus ist im Körper und kann durch ungeschützten Geschlechtsverkehr weitergegeben werden. Es dauert ca. 2-12 Jahre, bis dann die Krankheit AIDS ausbricht, wobei es DIE Krankheit AIDS gar nicht gibt. Es ist ein Sammelsurium verschiedener Krankheiten, die ausbrechen können, z.B. Krebserkrankungen oder eine Lungenentzündung. Das Immunsystem sinkt irgendwann so stark ab, dass man von dem Stadium AIDS spricht. Es wird kategorisiert von den Stufen A1, die frische Infektion ohne irgendwelche Symptome, bis C3, das ist das Endstadium.
Vor einigen Jahrzehnten war die Diagnose HIV positiv fast ein Todesurteil. Welche medizinischen Fortschritte gibt es bei der Behandlung von HIV?
Das ist zum Glück ganz anders geworden. In den Anfangszeiten, also den 80ziger Jahren, gab es nur drei Medikamente zur Behandlung von HIV, die ähnlich starke Nebenwirkungen hatten wie eine Chemotherapie. Viele AIDS Patienten sind damals auch an den Nebenwirkungen der Medikamente verstorben, die sehr hoch dosiert eingesetzt wurden. Inzwischen weiß man viel mehr über den Aufbau des Virus und wie es funktioniert. Durch die Forschung ist es HIV positiven Menschen möglich, ein Leben zu leben, was fast genauso normal ist wie das Leben eines gesunden Menschen. Seit einiger Zeit gibt es ein Medikament mit dem Namen Truvada. Dies ist ein Medikament zur sogenannten Präexpositionsprophylaxe. Mithilfe dieses Medikaments kann eine Ansteckung durch HIV in einem gewissen Zeitraum vor und nach dem Sex verhindert werden. Man kann also auch als HIV Positiver ungeschützten Geschlechtsverkehr haben. Die Nebenwirkungen der Medikamente sind drastisch zurückgegangen. Inzwischen können auch Kinder auf normalem Wege zur Welt gebracht und gestillt werden. Voraussetzung ist natürlich die korrekte Einnahme der Medikamente und die Betreuung durch einen spezialisierten Arzt. Der Tod, der vor einigen Jahren noch das Ende der Erkrankung markierte, haben wir heute eigentlich gar nicht mehr. Die älteste Person, die wir bei uns betreuen, ist 83 Jahre alt und ist seit über 30 Jahren HIV positiv. Dank der Medikamente geht es ihr gut. Es gibt zwar noch keine Heilung, aber ein fast normales Leben. Nur manchmal gibt es die Problematik, dass die Menschen überdrüssig werden, ihre Medikamente zu nehmen.
Auf der einen Seite ist eine bessere Behandlungsmöglichkeit natürlich toll für die Betroffenen, führt dies aber auch zu einer größeren Leichtfertigkeit im Umgang mit HIV?
Für die Betroffenen gibt es keine größere Leichtfertigkeit, aber sicherlich für die Bevölkerung, denn man hört fast nichts mehr von HIV und AIDS. Es gibt nur noch wenig öffentliche Präventionsarbeit und auch an den Schulen wird nur noch ganz wenig gemacht zu dieser Thematik. Aber junge Menschen sollten zumindest davon etwas gehört haben, bevor sie in die Sexualität gehen.
Was sind die häufigsten Vorurteile, mit denen HIV Positive konfrontiert werden?
Das Thema Vorurteile muss man nach Geschlechtern getrennt betrachten. Bei Frauen gibt es immer noch das Vorurteil „Die hat selber Schuld“. Infizierte Frauen berichten, dass sie auch als Schlampe beschimpft werden. HIV positiven Männern wird sofort unterstellt, schwul zu sein. Diese Vorurteile sind natürlich eine Unverschämtheit. Diese Vorurteile resultieren natürlich oft aus Angst und Unwissenheit. Es gibt bei einigen Menschen immer noch die Sorge, sich durch Anhusten oder durch das Trinken aus dem gleichen Glas anzustecken.
Gibt es spezifische Anzeichen, die darauf hindeuten könnten, dass ich mich mit HIV angesteckt habe?
Nein, es gibt keine spezifischen Anzeichen für eine HIV Infizierung. Es gibt bestimmte Erkrankungen, die Ärzten signalisieren, dass das Immunsystem geschwächt sein könnte, was wiederum an einer HIV Infektion liegen könnte. Aber um sicher zu sein, muss man einen Test machen.
Wie viele Menschen leben in Deutschland ohne zu wissen, dass sie HIV positiv sind?
Wir haben ungefähr 80.000 HIV positive Menschen in Deutschland und man schätzt, dass noch ca. 20.000 Menschen dazugerechnet werden müssen, die von ihrer Erkrankung nichts wissen. In Oldenburg betreuen wir ca. 200 HIV Positive, wahrscheinlich gibt es aber ungefähr 250 HIV positive Menschen. Die Dunkelziffer ist natürlich gefährlich, weil eine HIV positive Person, die nichts von ihrer Erkrankung weiß, andere Menschen anstecken kann.
Wie sieht diese Zahl international aus?
Leider gibt es dort erschreckende Zahlen. Wenn wir uns Osteuropa anschauen, dann haben wir eine Neuinfektionsquote bei Menschen zwischen 15 und 25 Jahren, die bei fast 10% liegt. Die politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse lassen es dort einfach nicht zu, dass HIV positive Menschen so leben können wie hier. Als HIV Positiver in Russland verliert man sehr wahrscheinlich seinen Arbeitsplatz und viele soziale Kontakte. In vielen islamischen Ländern steht auf Homosexualität immer noch die Todesstrafe. Aber auch in Deutschland muss man kritisch hinschauen, denn auch die katholische Kirche spricht nach wie vor davon, dass Homosexualität therapierbar sei. Das ist natürlich Blödsinn. Bei den Protestanten gibt es auch Stimmen, die sich gegen eine Heirat von Homosexuellen oder die Adoption von Kindern aussprechen. Homosexuell zu sein, ist eine natürlich Veranlagung und sollte als solche auch so angenommen werden. Es ist nichts Krankhaftes. Auch bei diesem Thema muss in Schulen viel Aufklärungsarbeit geleistet werden, denn das Wort „schwul“ ist bei Gesprächen auf dem Schulhof immer noch negativ besetzt.
Besteht auch die Gefahr, dass das Thema HIV von rechten Gruppen politisch missbraucht wird?
Rechte Randgruppen missbrauchen dieses Thema immer wieder, insbesondere im Kontext mit Flüchtlingen. Flüchtlinge, die nach Deutschland kommen, werden untersucht und behandelt, wenn sie HIV positiv sind. Es gibt keine vermehrte HIV Infektion, nur weil wir in Deutschland Flüchtlinge haben. Gerade für afrikanische Flüchtlinge ist diese Diagnose besonders schlimm, denn in ihren Kreisen bedeutet dies sehr oft, dass sie ausgestoßen werden. Viele Flüchtlinge wissen auch zu wenig über HIV und glauben, dass sie an dieser Krankheit sterben müssen. Dass es inzwischen gute Behandlungsmöglichkeiten gibt, lernen sie dann erst hier.
In welchen Lebensbereichen erfahren HIV positive Menschen Zurückweisungen?
HIV Positive erleben in allen Bereichen Zurückweisungen. Ein ganz schlimmes Beispiel: Wir hatten vor einigen Jahren einen Schüler, der in der Schule erzählte, dass der neue Lebensgefährte seiner Mutter HIV positiv ist. Dieser Junge ist anschließend so schwer diskriminiert und gemobbt worden, dass er die Schule verlassen musste. Aber auch unter Ärzten gibt es Beispiele, die HIV Positive nicht oder nur innerhalb bestimmter Sprechzeiten behandeln. Solche Dinge führen dazu, dass doch viele HIV Positive ihre Krankheit verstecken. Aktuell gab es auch den Fall eines jungen Mannes, der HIV positiv ist und der sich vor Gericht das Recht erkämpfen musste, eine Ausbildung bei der Polizei machen zu dürfen. Aber das Land Niedersachsen ist in Berufung gegangen und der Fall ist noch nicht abgeschlossen. Für uns ist das sehr schwer nachvollziehbar. Bei der Bundeswehr ist es hingegen kein Problem.
Wie reagieren Menschen, wenn sie die Diagnose HIV positiv bekommen?
Zunächst einmal geschockt. Die nächste Frage lautet dann oft: „Wer hat mir das angetan?“. Aber das ist natürlich die komplett verkehrte Frage. Denn wer ungeschützten Sex hat, muss sich bewusst sein, dass man sich auch infizieren kann. Anschließend kommen viele Fragen: Wie läuft mein Leben weiter? Wem kann ich mich anvertrauen? Wie werden die Menschen mit mir umgehen? Da sind natürlich viele Ängste da. Da sind wir natürlich auch als AIDS Hilfe ganz wichtig, um mit den Betroffenen Gespräche zu führen. Aber auch die Angehörigen müssen in solchen Fällen mit einbezogen werden.
Was
bedeutet denn die Diagnose HIV positiv für die Angehörigen?
Angst. Angst um die Person, und Angst davor, sich selber zu infizieren. Aber da
klären wir natürlich auf, dass das nicht passiert.
Gibt es bestimmte Risikogruppen, bei denen die Wahrscheinlichkeit, sich mit HIV zu infizieren, höher ist?
Das sind zum einen Prostituierte, Menschen, die drogenabhängig sind und durch das Sexualverhalten auch schwule Männer. Mit einem Kondom kann man sich schützen und deshalb ist es wichtig, dass man selbstbewusst in die Sexualität geht. Man sollte als junger Mensch auch wissen, dass man ihm Rahmen von Sexualität auch „Nein“ sagen darf. Man muss sich nicht alles gefallen lassen und man sollte nur das zulassen, zu dem man auch selber bereit ist. Ein klares „Nein“ ist eine Stärke, keine Schwäche. Auch die Frau kann übrigens ein Kondom benutzen, ein Frauenkondom. Dies schützt auch vor Geschlechtskrankheiten und ungewollten Schwangerschaften.
Gibt es einen Fall, der Ihnen besonders in Erinnerung geblieben ist, der Sie besonders berührt hat?
Ja, ein junger Mann kam vor ca. 15 Jahren zum ersten Mal zu uns. Er kam zum Offenen Frühstück, das wir immer freitags hier haben. Er war verheiratet, kam allerdings mit seiner Oma zu uns. Es war ein sehr aufgeweckter und pfiffiger junger Mann, aber er baute mit den Jahren immer stärker ab. Er saß später im Rollstuhl, ihm wurde ein Fuß amputiert und er musste auch eine neue Leber bekommen. Dazu kamen dann psychische Probleme und seine Ehe zerbrach. Vor vier Wochen ist er dann leider verstorben. Sein letzter Wunsch war, dass die Menschen anstelle von Kränzen für die AIDS – Hilfe spenden. Das sind Fälle, über die man dann auch lange nachdenkt.
Wie verarbeiten Sie selber die Schicksale, die Ihnen bei Ihrer Arbeit begegnen?
Wir sprechen sehr viel im Team über unsere Gedanken und Gefühle. Aber ich bin durch meine Arbeit auch ziemlich gefestigt. Vieles lasse ich nicht zu nah an mich ran. Aber man sollte immer auch darüber sprechen.
Glauben Sie, dass die Menschheit eines Tages diese Krankheit besiegen kann?
Schwierige Frage, aber nach dem Stand, den wir heute haben, glaube ich nein. Das Virus ist einfach zu wandlungsfähig. Das müsste schon ein großer Zufall sein, aber dies passiert in der Medizin ja auch immer wieder. Aber es wäre natürlich schön, keine Frage.