Unter der Grassnarbe
„Was gesagt werden muss“, aber wohl nicht gesagt werden darf
„Warum schweige ich […]“ – So beginnt Günter Grass‘ Gedicht „Was gesagt werden muss“, ein lyrisches Werk, das in den letzten Tagen für viel Furore sorgte. Offensichtlich hätte Grass auch weiterhin schweigen sollen, doch dieser unglaubliche Drang in ihm forderte ihn auf, seine Meinung als Literaturnobelpreisträger zur Außenpolitik Israels im Atomkonflikt zwischen Israel und Iran zu äußern.
MehrHolocaust Gedenktag
Am heutigen “Holocaust-Gedenktag” gedenkt man weltweit den Opfern des Nationalsozialismus. Aus diesem Anlass sprach der Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki in seiner Rolle als Zeitzeuge über den Völkermord im früheren Dritten Reich.
von marvinmödden
“Holocaust” kommt aus dem Griechischen “olokautev”, “ein Brandopfer darbringen” und ist die englische Bezeichnung für die Massenmorde an über 5 Millionen Menschen in den Konzentrationslagern der Nationalsozialisten.
Roman Herzog, damaliger Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland, rief im Jahre 1996 zu einem gesetzlich verankerten Gedenktag auf, sodass dieser “den künftigen Generationen zur Wachsamkeit mahnen soll”. Der Tag solle Trauer über Leid und Verlust ausdrücken und einer Wiederholung entgegenwirken.
So gedenkt man nun jedes Jahr am 27.01 den Juden, Christen, Sinti, Roma, Behinderten, Homosexuellen und anderen Opfern des Nationalsozialismus.
Am 27.01.1945 wurden die Überlebenden des KZ Auschwitz-Birkenau, welches symbolisch für den Völkermord steht, durch die Rote Armee, dem Heer der früheren Sowjetunion, befreit. Manche von ihnen wurden dort fast fünf Jahre lang gequält.
Überall an öffentlichen Gebäuden in Deutschland werden Flaggen auf Halbmast gesetzt. Ebenfalls in Israel und Großbrittanien wurde dieser Gedenktag bereits begangen.
Heute hielt der Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki im Deutschen Bundestag eine Rede über die Verbrechen der Nazis. Dabei komme er in der Rolle eines Zeitzeugen, nicht aber als Historiker. Sein Bruder und seine Eltern wurden von den Nazis ermordet und er ist einer der letzten lebenden ehemaligen Gefangenen des Warschauer Ghettos, in dem er auch seine Frau Teofila, genannt Tosia, fand. Ihnen beiden gelang am Tag ihrer geplanten Deportation im Januar 1943 die Flucht. Mittlerweile ist Reich-Ranicki bereits 91 Jahre alt.
Seine knapp 30-minütige Rede, mit einer etwas brüchigen Stimme, im Bundestag berührte die Zuhörer sehr. Auf seine Rede folgte eine minutenlange Stille die von einem verhaltenen Beifall unterbrochen wurde. Der Präsident des Bundesverfassungsgerichtes und der Bundespräsident Christian Wulff geleiteten den geschwächten Literaturkritiker vom Rednerpult zurück zu seinem Platz.
Vor seiner Rede ehrte Bundestagspräsident Norbert Lammert die Menschen, die sich u.a. gegen die Neonazis engagieren, in seiner Eröffnungsrede. Diese Menschen machten Mut, so Lammert, und gäben ein gutes Beispiel für unsere Gesellschaft ab.
“Sally, Du sollst leben!”
Sally Perel, der durch seine Autobiografie “Ich war Hitlerjunge Salomon” weltberühmt geworden ist, besuchte gestern die Jahrgänge 8 – 10 des Laurentius-Siemer-Gymnasiums. In seinem fast zweistün-digen Vortrag schilderte er auf eindrückliche und berührende Weise seine Lebensgeschichte und machte damit die anwesenden Schüler, wie er es selbst sagte, auch zu Zeitzeugen. Seine Botschaft war eindeutig: Lernt aus der Geschichte, denn der Holocaust darf sich nie mehr wiederholen! Laurentinews.de hatte nach dem Vortrag die Gelegenheit, mit Sally Perel ein Interview zu führen. Dabei erzählte er uns, warum er vor allem die deutsche Jugend ansprechen will, wie er von Auschwitz er-fuhr und ob er jemals Rachegedanken hatte.
LaurentiNews: Ihr Vortrag hat heute viele Schülerinnen und Schüler begeistert. Warum ist es Ihnen wichtig, auf Ihren Vortragsreisen besonders auf junge Menschen zuzugehen?
Perel: Ich sehe das als Mission. Und wer eine Mission hat, der hat auch die Kräfte dazu. Es geht mir vor allem um die kulturelle Aufklä-rung der jungen Mitmenschen. Die Jugend muss die Geschichte des Landes kennen, in welchem sie wohnt. Sie muss vor allem alle Seiten wissen, auch die dunklen. Als Zeitzeuge war ich mitten im Gesche-hen und kann objektiv erzählen, wie es hier war. Es ist meine Aufga-be, so lange es geht, das historische Bewusstsein zu wecken.
LaurentiNews: Tragen Zeitzeugen wie Sie bei der historischen Aufklärung eine besondere Verantwortung?
Perel: Ja, ein Zeitzeuge kann dies besser als ein Geschichtslehrer. Nach den Zeitzeugen bleiben ei-gentlich nur Dokumente und Dokumente kann man sehr leicht fälschen, wie dies bereits heutzutage von Holocaustleugnern versucht wird. Durch meine Berichte leiste ich auch einen Beitrag dazu, dass der Holocaust nicht geleugnet und vergessen wird. Die Jugend weiß es zu schätzen, dass man ihnen die volle Wahrheit sagt.
LaurentiNews: Ein wichtiges zeitgeschichtliches Dokument ist ihr Buch „Ich war Hitlerjunge Salomon“. Wie haben die Menschen auf diese außergewöhnliche Geschichte reagiert?
Perel:Das Buch hat in Deutschland nicht nur positive Kritiken bekommen. Einige behaupteten, dass meine Geschichte nur erfunden sei. Um das Gegenteil zu beweisen, kam ich nach Deutschland und habe in der Begleitung von zwei Reportern von STERN und SPIEGEL einen ehemaligen Hitlerjungen getroffen, der bezeugen konnte, dass meine Geschichte wahr ist. Dort habe ich aber auch noch viele Informationen bekommen, die noch ins Buch hineinkamen. So wurde das Buch zu einem authentischen Dokument.
LaurentiNews: Gab es Menschen, die Ihnen vorgeworfen haben, dass Sie in ihrer Zeit in der Hitler-jugend sich bzw. ihre Religion verleugnet haben?
Perel: Ich habe keinen Grund mir Vorwürfe zu machen. weil ich mein Leben nicht auf Kosten anderer gerettet habe. Außerdem habe ich das Gebot meiner Mutter erfüllt. Ihre letzten Worte, die sie an mich gerichtet hat, waren: “Sally, Du sollst leben!” Daran habe ich mich gehalten. Außerdem denke ich, dass jeder so handeln würde. Auch in der jüdischen Religion ist das Menschenleben das Allerhei-ligste und alles andere ordnet sich diesem unter. Ein Rabbiner in Israel hat mich einmal angegriffen und gesagt: “Deine Geschichte ist unmoralisch, du hast deine Religion verleugnet, um deine Haut zu retten.” Daraufhin fragte ich: “Welche Moral predigst du mir? Sollte ich den deutschen Soldaten sa-gen “Ich bin Jude, schießt mich tot!”? Dann wäre ich moralisch gestorben, aber ich wollte moralisch überleben. Ich brauche mich bei niemandem für mein Handeln zu entschuldigen.
LaurentiNews: In der Hitlerjugend wurden sie stän-dig mit der Ideologie der Nationalsozialisten kon-frontiert. Wie standen Sie zur nationalsozialistischen Ideologie? Gab es damals Momente, in de-nen sie ins Zweifeln kamen, ob diese Ideologie in manchen Punkten doch Recht hat?
Perel: Nein, ich glaube wenn die Basis falsch ist, kann alles was darüber steht, nicht richtig sein. Das Fundament war falsch und unmenschlich.
LaurentiNews: Wussten sie damals vom Holocaust?
Perel: Natürlich wusste ich davon, aber ich wollte es nicht wissen. Im Unterbewusstsein wusste ich, was geschieht.
LaurentiNews: Wussten sie auch von dem Ausmaß des Holocausts?
Perel:Nein, über Auschwitz wusste ich nichts. Ich habe dieses Thema ganz verdrängt. Ich wollte mei-ne Energie und meine Kräfte nur für meinen ganz
persönlichen Überlebenskampf haben. Ich war ja im Ghetto Lodz. Aber in dem Moment, in dem ich wieder zurückkam, habe ich sofort umgeschaltet, denn hätte ich jeden Tag darüber nachgedacht, hätte ich es gar nicht überstanden. Ich hatte nur ei-nen Gedanken, an den ich mich geklammert habe, wie ein Ertrinkender an einen Strohhalm: Mada-gaskar. Ich habe gehofft, dass dort vielleicht doch ein Judenstaat besteht und ich dort eines Tages mal hinfahren kann.
LaurentiNews: Wann und wie haben sie von Auschwitz erfahren?
Perel: Von Auschwitz habe ich erst nach dem Krieg erfahren. Ich habe in Braunschweig ein paar Tage nach der Befreiung einen Juden auf der Straße getroffen, der einen Sträflingsanzug trug. Als ich sei-nen Judenstern sah, kam mir plötzlich die Erinnerung hoch, dass ich ja auch Jude bin. Das war bei mir so tief in Vergessenheit geraten. Ich ging also zurück und fragte ihn: “Entschuldigen sie, sind sie Ju-de?” Er ignorierte mich und ging weiter, schließlich trug ich ja noch meine HJ Uniform, an der nur die Hakenkreuze abgerissen waren. Seine Ignoranz tat mir sehr weh und ich überlegte mir, wie ich ihn überzeugen konnte, dass ich auch Jude bin. Ich stellte mich also vor ihn und sagte nur zwei Worte, die am Anfang des heiligsten Gebets der Juden stehen: “Schma Jisrael”, das heißt auf Deutsch “Höre Israel”. Da schaute er mich an und umarmte mich. Und ich umarmte ihn. Ich hätte ihn fast erstickt vor lauter Freude, denn er kam ja aus einem KZ und war nur noch Haut und Knochen. Wir weinten beide auf der Straße. Von ihm habe ich zum ersten Mal von Auschwitz erfahren. Ich wusste zwar
schon vorher, dass es KZs gibt, z.B. in Dachau und Buchenwald, auch die Moorsoldaten waren be-kannt. Als Kind hörte man auch immer wieder den Spruch: “Sei artig, sonst kommst du ins KZ!” Aber wir dachten, dass in den KZs hauptsächlich die politische Opposition inhaftiert wurde, wie die Kom-munisten und die Sozialdemokraten, aber niemand konnte sich vorstellen, dass dort Gaskammern und Krematorien gebaut wurden, um uns Juden zu vernichten.
LaurentiNews: Nach dem Krieg emigrierten Sie nach Israel. Wie fühlten Sie sich, nachdem Sie so lange vortäuschen mussten, judenfeindlich zu sein, unter Ihren Landsleuten?
Perel: Ich freute mich in meinem Land zu sein, wo die Juden in der Mehrheit waren. Aber ich merkte auch, dass sich in Israel eine Tragödie abspielte. Plötzlich begriff ich, dass die Palästinenser aus ihrem Land, wo heute Israel ist, vertrieben wurden. Das wusste ich nicht, als ich noch in Europa war. Ich dachte mir: Das was uns angetan wurde, dürfen wir keinem anderen Volk antun. Und deshalb habe ich mich der Friedensbewegung angeschlossen und habe mich politisch engagiert. Ich bin auch heute noch für eine gerechte Lösung der Palästinenserfrage. Das ist meine Lehre aus dem Holocaust. Ich liebe Israel, es ist ein schönes Land, aber ich hätte niemals geglaubt, dass es ein Besatzungsland wird und dass ein anderes Volk durch die israelische Armee brutal unterdrückt wird. Das ist gegen meine Erfahrung vom Holocaust.
LaurentiNews: Sie sind also dafür, dass die Grenzen von 1967 wieder hergestellt werden?
Perel: Ganz klar, am besten nicht morgen sondern gestern schon. Kein Friedensprozess kann gelin-gen, wenn es nur einen Paragraphen gibt, der zu einem neuen Konflikt führen kann. So wie es 1967 war, so soll es zurück. Alle Siedlungen müssten geräumt werden und alle Siedler sollten zurückkeh-ren. Oder die israelischen Siedler sollen dort bleiben, aber dann als palästinensische Bürger. Aber das wollen sie natürlich nicht, also haben wir noch vieles vor uns.
LaurentiNews: Ihr Buch und Ihr Film sind sehr populär. Erkennt man Sie in Israel auf der Straße und spricht Sie an?
Perel: Ja, auf jeden Fall. In Israel gibt es keine Schule, in der mein Buch nicht zum Unterricht gehört. Es wird immer populärer, vor allem in den niedrigeren Klassen. Mein Buch wird auf der ganzen Welt gelesen und wurde in fast alle Sprachen übersetzt, außer auf Chinesisch glaub ich.
LaurentiNews: Was haben Sie für einen Beruf ausgeübt, bevor sie Autor wurden?
Perel: Ich bin schon lange im Ruhestand. Davor habe ich mit meinem Bruder in einer kleinen Fabrik Reißverschlüsse produziert. Dann wurde ich am Herzen operiert und ging in den Ruhestand. Und erst dann kam die Erinnerung hoch. Seit 1992 bin ich nun mit meinem Buch unterwegs, nächstes Jahr habe ich also mein 20jähriges Jubiläum. Aber es melden sich immer mehr Menschen bei mir und möchten mich einladen. Und so lange es geht, mache ich es. Ich sage immer: “Oh, lieber Herrgott, lass mir noch etwas Zeit.” Ich wollte schon mit 80 Jahren aufhören, aber jetzt bin ich schon 86 und habe noch so einiges vor mir.
LaurentiNews: Wie gefährlich sind rechte Gruppierungen heutzutage noch? Hat Deutschland aus seiner Geschichte gelernt?
Perel: Die deutsche Jugend von heute lässt sich nicht mehr von solchen Parolen provozieren. Es gibt gewisse Randgruppen mit primitiven Jugendlichen, die sich mitreißen lassen. Das mag sich für diese Jugendlichen gut anhören, wenn sie Parolen hören wie “Deutschland den Deutschen!”, “Ausländer raus!” oder “Zurück mit den polnischen Gebieten nach Deutschland!”. Aber die Jugendlichen denken nicht weit genug, denn sie begreifen nicht, dass die Gebiete friedlich nicht zurückzubekommen sind, sondern nur durch Krieg. Aber wir wollen doch keine Kriege mehr! Aber die überwiegende Mehrheit der deutschen Jugend hat keine Kriege mehr im Kopf. Die Jugend von damals war viel militaristischer, die haben gejubelt, wenn sie für den Führer in den Krieg ziehen durfte. Und auch Hitler sagte: “Ihr habt genug gelernt, ich brauche jetzt rücksichtslose Kämpfer”. Die Jugendlichen fühlten sich dadurch gebraucht und bestärkt. Hitler ist es gelungen, die Jugend von damals um den Finger zu wickeln. Wir müssen deshalb die Jugendlichen von heute in ihrer Persönlichkeit stärken und ihnen ein Selbstwert-gefühl vermitteln. dabei spielt natürlich auch die Schule eine wichtige Rolle. Dann wird man nicht noch einmal ein Opfer solcher Parolen. Und die Ju-gend muss kritisch sein! Man muss nicht alles hin-nehmen, was die Leute von oben sagen, weil sie nicht immer die Wahrheit sagen. Das hat man z.B. bei Bun-despräsident Köhler gemerkt. Er sagte einmal die Wahrheit und das hat ihm sein Amt gekostet.
LaurentiNews: Vor einigen Wochen wurde John Demjanjuk, ein ehemaliger KZ Aufseher des Konzent-rationslagers Sobibor, von einem deutschen Gericht zu 5 Jahren Haft verurteilt. Wie haben Sie dieses Urteil aufgenommen?
Perel: Er wurde ja verurteilt, bleibt aber trotzdem frei. Ich bin damit zufrieden. Er hat seine Strafe bekommen. Aber mit 91 Jahren kommt er sowieso bald nach oben und dann soll er sich dort verant-worten.
LaurentiNews: Hatten sie niemals Rachegedanken?
Perel: Ich war nie mit Rachegedanken erfüllt. Wie schön würde die Welt sein, wenn es keine Rache- und Vergeltungsgedanken gäbe. Das sehen wir ja auch wieder im Nahen Osten: Vergeltung folgt auf Vergeltung, dieses Blutbad endet nicht. Das ist schlimm. Deswegen will ich keine Rache.
LaurentiNews: Herzlichen Dank für das Interview und alles Gute für Sie.
Perel: Gerne, bitte sehr. Shalom.